Wespennester voller Missverstaendnisse …

… oeffneten sich vor der Idee Rortys, Philosophen sollten sich der ‚heilenden Wirkung philosophiegeschichtlicher Zusammenhaenge‘ aussetzen. Rortys Ergebnis wirkte verstoerend bis erschreckend: Geist sei moeglicherweise nichts anderes – so gab Rorty zu bedenken -, als irrtuemlich interpretierende Ueberlegungen, die sich an Texten verstorbener Philosophen ergeben hatten.

Keine Wissenschaft – auszer der Theologie – ist derart mit der eigenen Geschichte beschaeftigt, wie die Philosophie. Vergleichbar der Theologie ist sie kontinuierlich dabei ihre Gegenstaende mit historischen Problemen zu fuellen, zu deren Klaerung, die Gegenwart beizutragen habe. Wie aber sollen Probleme der Vergangenheit mit Mitteln der Gegenwart geloest werden koennen? Und wie kann angesichts dieses merkwuerdigen Forschungsansatzes ‚philosophieren‘ fuer die Gegenwart produktiv werden?

Wer von universitaer-philosophischer Verbildung frei ist, wird merken, dass hier ziemlich schraeg interpretiert wird. Rorty hat dieses schraege Daherkommen selten klar benannt. Gegenueber seinem Freund Habermas aber war er da wenig zimperlich und nannte ihn einen „Sklaven“ traditioneller Vorstellungen. Dessen rationalistische Handlungstheorie charakterisierte er als ein veraltetes Konzept der metaphysischen Philosophie. Der Freundschaft zwischen den beiden Maennern haben diese klaren Worte keinen Abbruch getan, aber der Schrecken vor dem, was einem passieren konnte, wenn man Rorty’s Vorschlag folgte, vergroeszerte sich damit nicht nur fuer deutsche Philosophen.

Traditionsgepraegte Philosophen, die sich als ‚richtige‘ Philosophen verstehen, bestreiten, Metaphysik zu betreiben. Das liegt vor allem daran, dass sie zwar ihre Nomenklatura veraendert haben, nicht aber die Sache und auch nicht ihre Methode. Noch immer sind sie – meist mit Kant im Ruecken – einer irgendwie gearteten Objektivitaet auf der Spur und noch immer rechtfertigen sie ihre Ueberzeugungen mit Ursachen, die hinreichende bzw. zureichende Gruende liefern. Rorty beteiligte sich an diesen Diskursen, indem er Argumenationsketten seiner Kollegen beschrieb, darin herumstocherte und auf Aspekte hinwies, die unbeachtet liegen geblieben waren. Als Skeptiker liesz er sich nicht vom Vordergruendigen taeuschen, sondern benannte das, was er las, hoerte, sah, dachte und empfand. [1]

Eine derartige skeptische Klarsichtigkeit ist unter den traditionsgepraegten Philosophen weder sehr verbreitet noch wird sie geschaetzt. Rorty war u. a. aufgefallen, dass kleine Woertchen wie ‚wahr‘ bzw. ‚real‘ als Wahrheitskriterium herkoemmlicher Art benutzt wurden. Die schaedliche Wirkung von Ueberzeugungen, die auf diese Weise unmerklich ‚Wahrheit‘ beanspruchen, wurde und wird nicht bemerkt. Entsprechende Aeuszerungen von Rorty wurden uebersehen bzw. sind die ‚blinden Flecken‘ vieler Philosophen: „Sobald wir aufhoeren, wahre Ueberzeugungen als Repraesentationen der Realitaet aufzufassen und sie statt dessen … als Handlungsgewohnheiten begreifen, dann … koennen wir mit dem Wort ‚real‘ nichts mehr anfangen, es sei denn, wir verwenden es als einen uniformativen, nichts erklaerenden Ehrentitel, als einen Klaps auf die Schulter derjenigen Muster, auf die wir uns nunmehr verlassen.“ [2]

Es ist nachvollziehbar, dass traditionsgepraegte Philosophen nicht ins Leere laufen moechten, deshalb bestaetigen sie sich gegenseitig sowohl ihre Metaphysikfreiheit, wie auch die Gewichtigkeit ihrer philosophischen Ueberlegungen. Rorty nannte sie u. a. „Raetselfreunde“, weil sie das „Unsagbare lieben“ und Metaphern fuer „Werkzeuge des Denkens“ halten. Dabei braucht die Philosophie aber ’neue Anschauungen‘ ohne transzendente Sackgassen der Metaphysik, weil die alten nicht weiterfuehren. Dabei wird der Schrecken ohne einen archimedischen Angelpunkt auskommen zu muessen, letztlich marginal bleiben, weil er den Anfang fuer neue Moeglichkeiten des ‚philosophieren‘ markiert. „Wir Holisten behaupten, dass weder Intuition noch ambitioniertes Streben einen archimedischen Punkt gewaehrleisten.“ [3]

 

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[1] Vgl. dazu z. B. seine Einleitung zu Richard Rorty und Joachim Schulte: Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt/M. 2008, 6. Auflage, S. 7-24.

[2] Ebd. S. 171.

[3] Ebd. S. 176-178.

Wie ist ein richtiger Philosoph?



Das Wort ‚richtig‘ muesste ich eigentlich aus meinem Wortschatz streichen, weil dies meinem ‚philosophieren‘ einen Rahmen gibt, der unbrauchbar ist. ‚richtig‘ und ‚falsch‘ sind wahrheitsphilosophische Bezeichnungen. ‚Wahrheit‘ ist eine Erfindung von Philosophen, die Recht haben wollen, mit Beweisen den Diskurs in ihrem Sinne steuern moechten. Kurzum sie haben immer etwas im Sinn, sie verfolgen Absichten und streben Ziele an. Ich habe derartiges nicht. Aber ich habe den Wunsch, verstanden zu werden.

Ich philosophiere und lege mich nicht fest – wenigstens nicht dauerhaft. Ich moechte mit anderen ins Gespraech kommen, von ihnen angeregt werden und andere anregen. Ich behaupte, dass Rorty auch in diesem Sinne philosophiert hat, nachdem es ihm nicht gelungen war, das ’sagenhafte Land‘ zu finden, in dem alle Fragen beantwortbare sind oder beantwortet werden koennen. Heute beschaeftigen sich Analytische Philosophen, Rationalisten, Sozialreformer und Poststrukturalisten auf ihre Weise mit diesem ‚Land‘. Ich halte dies wie Rorty fuer reine Zeitverschwendung, denn Wahrheit, bzw. Objektivitaet ist ein Maerchenreich. Davon traeumen und erzaehlen sich seit Jahrhunderten die meisten Philosophen untereinander, anstatt ihre Sinne zu gebrauchen und darueber zu philosophieren, was sie sehen und fuehlen koennen.

Rorty ist nicht so weit gegangen, sich als Sensualist zu bezeichnen – weil er sich von Erkenntnistheorie nicht viel versprach – und hielt sich zu den Skeptikern und Pragmatikern. Letztere sind zwar in der Philosophie auch schon in Verruf gekommen, weil ihnen wie Kant meinte, die Faehigkeit des abstrakten Denkens fehle, aber sie duerfen wenigstens mit Sympathie rechnen, die ihnen aus ganz eigennuetzigen Gruenden ihren Hang zum nuetzlichen Philosophieren nachsieht. Ihre eigene Philosophie, so meinen die traditionell gebundenen Philosophen versöhnlich, soll ja auch dem Handeln dienen.

Skeptiker dagegen sind ganz arm dran. Sie sind die unaufhoerlich Zweifelnden, die streng genommen nicht handlungsfaehig sind, so sagen seit Jahrtausenden die Traditionalisten, die angeblich ‚wissen‘, was richtig und falsch ist. Skeptiker und Skeptikerinnen verfuegen nicht ueber derartiges. Sie eiern rum, tun sich schwer, die Dinge beim Namen zu nennen, weil ihnen die Woerter zerfließen: doch sie moechten die anderen im Gespraech festhalten. Deshalb sind sie zu Zugestaendnissen bereit, benutzen Woerter, die Missverstaendnisse hervorrufen und beschreiben Dinge, die anderen unter ‚ferner liefen‘ nicht auffallen.

Rorty pries seinen Kollegen die Philosophiegeschichte als ‚Therapeutikum‘ an, weil sie ihm als solches gedient hatte. Seine Behauptung, philosophische Probleme, die vermeintlichen Ewigkeitscharakter haetten, seien Erfindungen der Philosophen, hat ihn philosophisch ins Abseits gebracht. Skeptikern geht es in der Regel so. Sie gehen davon aus, dass ihre Forschungsergebnisse fuer andere genauso interessant und faszinierend sind wie fuer sie. Sie warten ihr Leben lang darauf, dass andere interessiert nachfragen. Doch dieses Interesse – auch an Rorty – bleibt aus. Die Mehrheit der Philosophen will dort forschen, wo die Mehrheit forscht, indem sie Wirkliches und Imaginiertes vermischt – dies hat schon Parmenides nachdenklich angemerkt – und versaeumt es dabei, zu thematisieren, wie und worueber sie philosophieren. Sie bleiben u. a. im ‚Wahrheitsparadigma‘, reden von Ursachen, statt von Bedingungen und wollen mit und ohne ‚Logeleien‘ andere ueberreden. Sie verwechseln Worte mit Sachen und erfinden neue Wortschaelle, um damit ihre Philosophien aufzufuellen.

Rorty schrieb 1979 ueber seinen ‚Spiegel der Natur‘:
„Mit diesem Buch biete ich so etwas wie ein Prolegomenon zu einer Geschichte der erkenntnistheoretisch orientierten Philosophie als einer Episode der europaeischen Kulturgeschichte an. Diese Philosophie geht auf die Griechen zurueck und verzweigt sich in all die nichtphilosophischen Disziplinen, die sich zu verschiedenen Zeiten als Substitute fuer die Erkenntnistheorie und damit fuer die Philosophie anboten. Man kann die fragliche Episode also nicht einfach mit der »modernen Philosophie« gleichsetzen, der Sequenz von Descartes bis Russell und Husserl gemaesz der ueblichen Einteilung in den Lehrbuechern. Gleichwohl ist es diese Sequenz, in der am ausfuehrlichsten nach einem Fundament der Erkenntnis gesucht wird. Der groeszte Teil meines Projekts einer Dekonstruktion des Bildes vom Spiegel der Natur betraf demnach diese Philosophen. Ich wollte aufzeigen, auf welche Weise ihr Beduerfnis, zu einer arche jenseits aller Diskurse auszubrechen, sich auf das Beduerfnis gruendet, in unseren sozialen Rechtfertigungspraktiken mehr zu sehen als einfach nur solche Praktiken. Jedoch konzentrierte ich mich in der Hauptsache auf die Erscheinungsformen dieses Beduerfnisses in der neueren Literatur der analytischen Philosophie. Das Ergebnis ist nicht mehr als ein Prolegomenon. Eine wahrhaft historische Behandlung des Gegenstandes wuerde Kenntnisse und Faehigkeiten erfordern, ueber die ich nicht verfuege. Ich hoffe jedoch, dieses Prolegomenon hat hinreichend deutlich werden lassen auf welche Weise man zeitgenoessische philosophische Fragen als Episoden einer bestimmten Station in einem Gespraech verstehen muss – einem Gespraech, das einmal nichts von diesen Fragen wusste und das womoeglich wieder einmal nichts von ihnen wissen wird.“
(Richard Rorty und Michael Gebauer: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt/M. 2008, 6. Aufl., S. 422. )

Von den Schwierigkeiten Selbstverstaendliches und Irrtuemliches zusammen zu sehen



‚Rortyphilosophie‘ scheint mir ein gutes Beispiel dafuer zu sein, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse dann verhallen, wenn sie aus dem Mainstream der ‚Selbstverstaendlichkeiten‘ einer Wissenschaft fallen. Diese ‚Selbstverstaendlichkeiten‘ nennt man in der Philosophie „Erkenntnisse“. Mit ‚Selbstverstaendlichkeiten‘ einer Wissenschaft koennte man das bezeichnen, was in einer Wissenschaft als fraglos gegeben angesehen wird, d.h. das, was sich von selbst versteht und insofern selbstverstaendlich ist. Rolf Reinhold ueberraschte mich mit der Aeußerung: Zwischenmenschliches werde durch Selbstverstaendliches beeintraechtigt. Dies kann z.B. die Art und Weise sein, wie jemand die Zahnpasta aus einer Tube drueckt. In der Philosophie ist es die Metaphysik, bzw. sind es Metaphyzismen, wie das ‚Mentale‘ , das zu den mehrheitlich geteilten Selbstverstaendlichkeiten zaehlt. Das ‚Mentale‘ duerfte nur in Als-ob-Fragen unter dem formal-methodischen Mantel der Wissenschaftlichkeit angetastet werden koennen. Oder es wird interpretierend Gehirnfunktionen uebergestuelpt. Beides sind in meinen Augen Symptome fuer die selbstverstaendliche Unantastbarkeit des ‚Mentalen‘. Wer diese philosophischen Tabus verletzt, duerfte mit den Folgen seines Handelns leben muessen.

Alltaegliche und wissenschaftliche ‚Selbstverstaendlichkeiten‘ sind nach meinen Beobachtungen fest verwurzelt und dem Einzelnen in Fleisch und Blut uebergegangen sein. Er scheint sie als einen von ihm erworbenen Besitz zu betrachten, dem mit dem Terminus ‚Erkenntnis‘ Wissenschaftlichkeit und Wahrheit zugeschrieben wird. Die ‚Selbstverstaendlichkeit des Mentalen‘ hat Rorty in seinem „Spiegel der Natur“ erlaeutert. Wie schmerzhaft diese Ergebnisse von Metaphysikern erlebt wurde, laesst sich dem Aufschrei ‚Dekonstruktion‚ entnehmen. Habermas ist meiner Kenntnis nach der einzige deutsche Philosoph, der den Nutzen dieser Dekonstruktion bemerkt hat: „Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktische Bedeutung zurueckzugeben, die sie einmal beansprucht hat. Sie soll, indem sie dem Einzelnen Orientierung anbietet, und den moralischen Fortschritt der Menschheit befoerdert, den Zustand der Welt verbessern helfen.“ (Juergen Habermas: Richard Rorty und das Entzuecken am Schock der Deflationierung. Laudatio aus Anlass der Verleihung des Meister-Eckhardt-Preises an Richard Rorty am 3.12.2001.)

Menschen, die davon ausgehen, dass das Aufdecken von moeglichen Irrtuemern auf offene Ohren und Arme treffen duerfte, befinden sich selber im Irrtum. Die Entlastung, die durch Aufdecken entsteht, vermag nur der zu erleben, fuer den das Irrtumsbehaftete zur Last geworden ist. Selbstverstaendlichkeiten duerften aber eher als Erleichterung angesehen werden. Außerdem verbinden sie Menschen in stillem Einvernehmen, was fuer alltaegliche und wissenschaftliche Gemeinschaften wichtig ist. Eventuell dienen sie als Schutzwall gegen das, was man nicht, bzw. noch nicht kennt. Rortys ‚edifying philosophy‘ wurde und wird weitgehend mit Unverstaendnis begegnet. So scheinen Selbstverstaendlichkeiten eine gewisse Blindheit gegenueber dem zu erzeugen, das sich unmerklich als Dekonstruktion in einer Wissenschaft oder Beziehung ausbreitet. Die ‚Gewohnheit als Fuehrerin durch unser Leben‘ wirft Schatten. Das was im Dunkeln liegt, muesste genau angesehen werden, wenn Menschen herauszufinden moechten, ob es brauchbar sein koennte. Solange davon ausgegangen wird, dass ausreichend Licht vorhanden ist, wird man sich von diesen Nebenschauplaetzen eher fern halten.

Rorty galt lange Zeit als profilierter Vertreter der amerikanischen Analytischen Philosophie. Sein Sammelband „Die linguistische Wende“ fungierte aus meiner Sicht bereits als Anregung,  sich den philosophischen Fragen zuzuwenden, die bisher im Dunkeln liegen gelassen worden waren. M.E. laesst sich dies aus der Einleitung und dem Charakter „Studienbuch“ entnehmen. Dies wurde in den sechziger Jahren kaum bemerkt. Als Rorty dann im „Spiegel der Natur“ seine Forschungsergebnisse und seine Schlussfolgerungen dazu vorlegte, fiel die Fachwelt aus allen Wolken. Ich gehe davon aus, dass dies dem entsprach, was Profis bei der Lektuere empfanden. Laien – philosophische und wissenschaftliche Autodidakten – nahmen Rortys Ergebnisse interessierter und positiver zur Kenntnis. Gewissenhafte Autodidakten duerften sich vom Schweigen der Fachwelt irritiert gefuehlt haben.

Rorty hat den Weg zu seinen Forschungsergebnissen in seinem philosophiebiographischen Aufsatz „Trotzki und die wilden Orchideen“ so charakterisiert: Ich habe „… im Folgenden versucht, etwas darueber zu sagen, wie ich in meine gegenwaertige Lage gelangt bin – ich erzaehle davon, wie ich zur Philosophie gekommen bin und dass ich mich bald danach in einer Situation wieder fand, in der ich auszer Stande war, Philosophie so zu betreiben, wie ich es mir urspruenglich vorgestellt hatte. Vielleicht kann der Bericht ueber dieses Stueck aus meinem Leben … klaerend dazu beitragen, dass ich mir meine Sichten mit Sinn und Verstand angeeignet habe.“

therapeutisch gesinnter Philosoph

Bei den Auseinandersetzungen unter Historikern geht es um Fragen, die eine ‚kontinuierliche Entwicklung‘ bestimmter Probleme – z.B. Erkenntnistheorie und Metaphysik – von der Antike bis heute betreffen. „Diejenigen unter uns, die Zweifel an der kontinuierlichen Entwicklung … hegen, bemuehen sich um die Erkundung einer Abfolge weitgehend diskontinuierlicher, aber stets ‚philosophisch‘ genannter Problemstellungen, die durch jeweils verschiedene Krisen der Kultur hervorgebracht wurden. Dabei werden diese Krisen als so verschiedenartig aufgefasst, dass es wenig Sinn hat, Locke als Nachfahren des Aristoteles oder als Vorlaeufer Heideggers zu sehen.“ [1]

Ich beschaeftige mich zuerst mit Rorty’s Zurueckhaltung gegenueber der Idee, es gaebe so etwas wie eine kontinuierliche Entwicklung von Problemstellungen in der Geschichte der Philosophie. Manche kennen diese Idee vor allem als die Hegels, der in der Geschichte der Philosophie das Wirken ‚des sich dialektisch entfaltenden Geist‘ sehen zu glaubt. Dies kann in seinen ‚Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie‘ nachgelesen werden. Doch auch anders benannte Motoren der Geschichte der Philosophie – wie die der Vernunft, des Bewusstseins – gibt es und hat es gegeben. In nichtphilosophischen Geschichtswissenschaften ist auch Kontinuitaet von Entwicklungen ein vielfaeltig gebrauchtes Instrument. Rorty weist darauf hin, dass heute in der Philosophie die Annahme einer ‚kontinuierlichen Entwicklung‘ mit Skepsis betrachtet wird, die er teile. Er kritisiert dazu u. a. dass die Idee einer ‚kontinuierlichen Entwicklung‘ sich ganz selbstverstaendlich und unreflektiert damit verbindet, dass – wie Jonathan Rée formulierte – „historisches Bewusstsein … von kategorialer Wichtigkeit fuer den Philosophen“ [2] sei. Eine Auffassung die auch unter deutschen Philosophen der Gegenwart vorherrschend ist und sich entsprechend im universitaeren Lehrkanon niederschlaegt. In neueren Philosophiegeschichten istimmer noch  zu lesen: Es gibt eine ‚kontinuierliche Entwicklung‘ von Fragestellungen, Problemen und Begriffen. [3] Diese merkwürdige Überzeugung von einer ‚kontinuierliche Entwicklung‘ scheint tief verwurzelt in den Köpfen und Herzen vieler Philosophen. Wieso eigentlich? Und vor allem: Was kommt dabei heraus? Dieser Frage ist übrigens auch Rorty nachgegangen. 

Hinter Rorty’s Skepsis verbirgt sich seine andere Sicht auf die Funktion der Philosophiegeschichte fuer die Philosophie. Diese hat er bereits in seinem ‚Spiegel der Natur‘ im Zuge seiner erkenntnistheoretischen und damit zusammenhaengenden Untersuchungen ueber das ‚Leib-Geist-Problem‘ ausfuehrlich dargestellt. Er hatte damals geaeuszert – mit Bezug auf sein ‚philosophieren‘ -, dass es ‚therapeutische Auswirkungen‘ hat, wenn man sich mit Philosophiegeschichte rational, historisch rekonstruierend und im geistesgeschichtlichen Rahmen so beschaeftigt, wie er es getan hat. Dies haette bei ihm im Falle der Erkenntnistheorie und des Leib-Geist-Problems dazu gefuehrt, zu unterstellen, dass ‚Geist‘ in der Philosophie deshalb eine ontologische Dimension erhalten habe, weil Philosophen in zeitgemaeszer Weise im Rahmen von Problemloesungen fuer ihre jeweilige Gegenwart darueber gesprochen und geschrieben haetten. Weil dabei bestimmte Woerter in Umlauf kamen, wurde es moeglich philosophischen Texten im Nachhinein eine bestimmte, wenn auch spaetere (Hinein-)Interpretation zuzuordnen.

Vehement wurde diese Einschaetzung mehrheitlich mit dem Etikett ‚Sakrileg‘ beklebt. Man urteilte, Rorty habe das Ende der Philosophie eingelaeutet. Er wuenschte sich fuer die Philosophie aber nur den Verzicht auf Fragen und Antworten, die angeblich Ewigkeitscharakter haben. Dies sollte den Raum oeffnen fuer ein ‚philosophieren‘ zu Problemen der Gegenwart. Ihm schwebte vor, dass an diesem ‚Gespraech‘ sich weltweit alle ‚Denker und Dichter‘ beteiligten. Philosophiegeschichte koenne nicht lehren, worueber in diesem Gespraech gesprochen und wie gesprochen werden soll. Im Gegenteil sie sei sogar hinderlich. Wenn Philosophiegeschichte im eigenen Denken assimiliert wird, wirke sie als ‚Schattengeschichte‘ (Richard Watson). In der Folge halten normale Philosophen die eroerterten Probleme fuer echte philosophische Probleme, die sie von Problemen der Gegenwart abhalten. Die letzteren mit Loesungsvorschlaegen zu versorgen, ist aber fuer Rorty ‚philosophieren‘. Er teilte mit Dewey diese Auffassung.

Die Idee eines ‚menschheitsumfassenden Gespraeches‘ – befreit vom nutzlosen Ballast der Geschichte – verfolgte er mit seiner Art zu ‚philosophieren‘. Seine vielen schriftlichen und muendlichen Gespraeche mit Philosophen der Gegenwart zeichneten sich durch Akzeptanz und Beschreibung von deren Aeuszerungen aus. Es ging Rorty um Gemeinschaft. Die Teilnehmer dieses gemeinsamen ‚philosophieren‘ – von dem niemand wegen mangelhafter philosophiegeschichtlicher Kenntnisse ausgeschlossen ist – stehen stets im Wettkampf um die besten Ideen. Ein Wettkampf, der unentschieden ausgehen duerfte. „… doch solange er weiter ausgetragen wird, werden wir nicht jenes Gemeinschaftsgefuehl verlieren, dessen Moeglichkeit sich allein dem leidenschaftlichen Gespraech verdankt.“ [4] Anstelle von behaupteten ‚kontinuierlichen Entwicklungen‘ soll ‚philosophieren‘ Kontinuität von Gemeinschaft ermöglichen. Sie wäre eine Gemeinschaft, die im ‚Kontakt miteinander‘ (Rolf Reinhold) entsteht, sich verändert und sich stets mit Aktuellem befasst. 

 

[1] Rorty: Die Kontingenz der philosophischen Probleme. In: Ders.: Wahrheit und Fortschritt, 395 – 415. Ffm. 2008, 6. Aufl., 398.
[2]  Zit. ebd. 395.
[3] Vgl. Wolfgang Roed: Der Weg der Philosophie von den Anfaengen bis ins 20. Jahrhundert: Bd I. Muenchen 2000, S. 15-18.
[4] Rorty: Vier Formen des Schreibens von Philosophiegeschichte. 355 – 394. In: a.a.O. S. 394.

Rortyphilosophie II

Die kleine Liste von anderen Fragen aus dem letzten Artikel laesst sich beliebig erweitern. Nur die ersten drei stammen von Rorty:

Um was geht es hier?
Was ist hier los?
Wieso sagt irgendjemand dies oder das?
Wie geht es weiter?
Kennt sich einer aus?

… gelten dem ‚handeln‘ im Alltag und in den Wissenschaften. Sie fordern die Fantasie heraus. Fantasie ist noetig, wenn man Probleme loesen moechte. Die Fantasie vieler ist noetig, wenn man integrative Gemeinschaften entstehen lassen moechte: ‚fantasieren‘ bzw. ‚erfinden‘ – wie es auch in den Weltbildern antiker Philosophen zu finden ist – sind die tragenden Aktivitaeten einer zukunftstraechtigen Gegenwart.

Dogmatiken geben vor, Loesungen bereit zu halten. Sie verhindern ‚fantasieren‘ und ‚erfinden‘. (Dies koennte eine moegliche Antwort auf die Frage von Harald Lesch sein: Was machen Menschen, wenn sie die Wahrheit gefunden haben?) Dogmatiken binden Menschen an eine bestimmte Sicht. Sie kosten den Verzicht auf eigene Werte und verpflichten auf eine Moral, in der ‚Normen befolgen‘ wichtiger ist, als den jeweils autonomen Impulse zu folgen (Vgl. dazu Rolf Reinholds Gedanken ueber ‚Wertsystem‘.) Kulturen sind dogmatisch. Kulturen bilden Gemeinschaften, die segregierend funktionieren. Ihre Angehoerigen halten Kulturneutralitaet fuer belanglos bzw. fuer unerwuenscht oder unmoeglich.

Fuer eine weltweite Zusammenarbeit und eine weltweite Verminderung des Leidens – Hauptthemen des zukunftsorientierten ‚philosophieren‘ Rortys – ist die moralische Integritaet einer bestimmten Kultur als „belanglos“ einzuschaetzen. Eigenes Denken („ratio“ in: Rorty: Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt 2008, 6. Aufl. S. 23) und Fantasie tragen am meisten „zur Schaffung und zur Stabilitaet“ dogmenfreier Gemeinschaften bei (vgl. ebd. v. a. 22|23). Dies zu denken und umzusetzen, ist seit der Aufklaerung moeglich geworden. Rorty wuenschte sich, daran mit anderen gestaltend zu arbeiten. Zusammen mit dem Freund Habermas war das möglich. Hume schlug vor, eigenes ‚forschen‘ denkend unter die Lupe zu nehmen und sich über die eigenen Schlussfolgerungen mit anderen auszutauschen (vgl. z. B. ‚Advertisement‘ zu Band I der Abhandlung über die menschliche Natur.) Rolf Reinhold moechte seine Annahmen mit Annahmen (vgl. u. a. das Portal ‚Physistik‘) anderer eroertern. Diese philosophischen Wuensche sind noch weitgehend uneingeloest.

Es ist moeglich ueber Rortyphilosophie zu sagen, dass sie Worte anderer aufgreift, die ‚zukunftstraechtiges‘ thematisieren. Die Kultur jenseits einer bestimmten Kultur bezeichnete Rorty unter Berufung auf den argentinischen Juristen und Philosophen Eduardo Rabossi (vgl. ebd. 245) als „Menschenrechtskultur“. Sie bedarf keiner Rechtfertigung, keiner Begruendung: Sie zeigt sich einfach, d.h. sie ist ein Phaenomen. „Meine Hauptthese ist, … dass der Gedanke einer Fundierung der Menschenrechte durch das Phaenomen der Menschenrechte aus der Mode kommt und belanglos wird.“ (Vgl. Eduardo Rabossi: La teoria de los derechos humanos naturalizada. In: Revista del Centro de Estudios Constitucionales. Madrid, Nr. 5, S.159-179. Zit. bei Rorty, ebd. 245.) Im Sinne von ‚Rortyphilosophie‘ koennte man formulieren: Das Ereignis ‚Menschenrechte‘ aus der Fuelle der gegenwaertigen Ereignisse (Kontigenz) kann dazu dienen, nachzudenken und fantasievolle Annahmen fuer eine tragfaehige Gemeinschaft zu erfinden. Die Moeglichkeit kulturfreier menschlicher Gemeinschaften hat Rorty dabei auszen vor gelassen – dafuer gibt es noch kaum Ereignisse und Worte.

Rolf Reinhold nennt ‚Ideale‘ und ‚eigene Werte‘ als moegliche Bezeichnungen fuer das, was ‚kulturfrei‘ jedem Menschen zur Verfuegung steht und woraus Jedermann mit anderen ‚gemeinsam handeln‘ gestalten kann. Als hoechstes Ideal formulierte er tastend ‚ein lebenswertes Leben leben‘. ‚Ideale‘ sind schwer greifbar. Sie sind verborgen in menschlichen Eingeweiden bzw. Organen. Sie werden am ‚handeln‘ anderer, d. h. in Gemeinschaften erlebbar. Ereignisse, wie ‚handeln‘ anderer, dem Menschen zustimmen koennen, koennen Ideale aus dem ‚verborgenen‘ holen und bewusst machen. Da das ‚handeln‘ anderer das jeweils eigene Wertsystem beeinflusst und das eigene ‚handeln‘ veraendert, „…sollte man auch nicht so tun, als ob Werte durch ‚denken‘ gefunden werden koennten, …“ (David Hume: Abhandlung ueber die menschliche Natur. 3.1.1.7 )

Jeder kann erleben, dass ‚denken‘ bzw. Rationalitaet beim ‚erfinden‘ und ‚fantasieren‘ versagen. Dies gilt auch fuer Wissenschaftler. Wenn Rorty vorgehalten wird, dass seine Zukunftsphilosophie an vielen Stellen unklar bleibt, dann liegt dies moeglicherweise daran, dass Menschen denkend keine Vorstellungen darueber entwickeln koennen, was tatsaechlich geschehen wird. Vorstellungen für die Zukunft haben den Charakter von ‚möglichem‘. „Sobald man auch philosophisch den antiautoritaeren Impuls in sich entdeckt hat, ist Rorty der passende Autor fuer Menschen, die ahnen, dass sie sich mit allen ihren Ueberzeugungen auf duennem Eis bewegen und die dennoch nicht aufgeben wollen, an der Verbesserung der Gesellschaft zu arbeiten.“ Dirk Knipphals: Vom Gruebeln zum Handeln. TAZ 12.6.2007

Rortyphilosophie

 
Fuer die Philosophie ginge es darum, andere Fragen zu stellen als bisher. Antworten wie: „Es gibt keine Wahrheit.“ seien das Resuemee von Fragen der Vergangenheit, meinte Rorty. Andere, die an Wahrheit glauben, bzw. Gewissheit brauchen, fuehlten sich dadurch brueskiert. 
 
Die Gegenwart braucht Fragen wie:
Um was geht es hier?
Was ist hier los?
Wieso sagt irgendjemand dies oder das?
Wie geht es weiter?
Kennt sich einer aus?

 
Heinz von Foerster: „Keine Ahnung, was da los ist!“
 
Philosophie am Ende, meinten dazu viele und Rorty wurde nachgesagt, dies sei sein Werk. Er hielt es fuer das Ergebnis seines Studiums der Geistesgeschichte.  
 

‚philosophieren‘ im Sinne von ‚verhandeln‘
Allen Texten Rortys geht seine Auffassung von ‚philosophieren‘ voraus.
Es hatte sich fuer ihn ergeben, dass sich Wahrheit nicht finden laesst, sondern von Menschen gemacht wird. In seinem autobiographischen Aufsatz „Trotzki und die wilden Orchideen“ sind die Folgen des Verzichtes auf ‚wahrheitfinden‘ fuer seine eigene Lebensgestaltung nachzulesen. Seine Traeume von einer menschlich stimmigen Welt erhielten den Status von privaten Traeumen. Sie veranlassten ihn eventuell dazu, die us-amerikanische Kultur im Prinzip fuer die am weitesteten entwickelte der Gegenwart zu halten. Praesidenten wie Bush und konservative Gruppen verhinderten aus seiner Sicht, dass sie sich weiter entwickelte. Fuer Fragen der Gegenwart ging er mit anderen ins Gespraech. ‚philosophieren‘ wuenschte er sich als gemeinsam geteiltes Tun aller daran Interessierten. Die Antworten auf Fragen blieben dabei den unvorhersehbaren moeglichen Ideen dieses Gespraeches ueberlassen. Philosophen sollte dabei die Aufgabe zukommen, ihre Kenntnisse ueber Ideen – deren Vor- und Nachteile – zur Verfuegung zu stellen.   
 

‚philosophieren‘ als ‚beschreiben‘ von Sackgassen
Im antiken Gespraech galt der Verweis auf – vor allem verstorbene – Autoritaeten als unsachgemaesz. Fragen wurden mit eigenen Ideen untersucht – Irrtuemer als menschlich betrachtet. Als wahr wurde das angesehen, dem niemand widersprechen konnte. Es sei denn, er wollte als aristophanessche Karikatur eines Philosophen angesehen werden. Heutzutage scheinen Philosophen mehrheitlich derartige Skrupel fremd. Sie behaupten zumindest im universitaeren Rahmen, dass es besser sei einem „Wahrheitskriterium“ in der Zukunft nachzuspueren, als auf das Finden der Wahrheit zu verzichten, wie Rorty dies vorschlug. (Vgl. Walter Reese-Schaefer: Richard Rorty zur Einfuehrung. Hamburg 2006, S. 53.)   
Rorty fand fuer sich die Aufgabe den ‚Superwissenschaftlern der Philosophie‘, seine anderen Interpretationen  philosophischer Autoritaeten und der Geistesgeschichte anzubieten. Analytische Philosophen bzw. Sprachphilosophen der Gegenwart sollten damit die Gelegenheit erhalten, ’nachdenken‘ ueber bzw. ‚distanzieren‘ von ihrem ‚philosophieren‘ zu praktizieren. Dieses Tun bezeichnete er als ‚Therapie‘, an deren Ende sich gelaeuterte Philosophen einfinden wuerden, die sich gemeinsam mit ihm den Fragen der Gegenwart zuwenden wollten. Die Abwehr seines Ansinnens hat Rorty derart beeintraechtigend empfunden, dass er der universitaeren Philosophie den Ruecken kehrte und als Literaturwissenschaftler fortwirkte. Kurz vor seinem Tode raeumte er ein, dass philosophische Texte ihm keinen Trost spendeten – wohl aber die Poesie. Er wuenschte, mehr Gedichte auswendig gelernt und mehr Freunde gewonnen zu haben, als es ihm tatsaechlich moeglich gewesen war. 

‚philosophieren‘ im Sinne von ‚erfinden‘
Ist ‚wahrheitfinden‘ erst vom Tisch, lassen sich ungestoerter Moeglichkeiten finden, mit denen die Fragen der Gegenwart angegangen werden koennen. Diesem Gedanken widmete er seinen Zukunftsentwurf „Kontigenz, Ironie und Solidaritaet“. Mit seinem an analytischer, amerikanischer Philosophie geschulten Wortschatz (vocabulary) erlaeuterte er seinen Kollegen und Kolleginnen dort eingangs die Beruehrungspunkte zwischen sprachphilosophischen und sehr alten Implikationen ihres Philosophierens. Die Welt selber halte weder eine Wahrheit noch eine Sprache fuer Menschen bereit, erlaeuterte Rorty jenen, die eine „wahre Sprache“ auszerhalb des Menschen zu finden glaubten. Dieses Ansinnen sei das Erbe einer Philosophie, die die Welt als Schoepfung Gottes ansah und dessen unmenschliche Sprache als die eigentliche Sprache. „Die Welt spricht nicht. Nur Menschen sprechen. Sind Menschen mit einer bestimmten Sprache programmiert, dann werden sie dadurch veranlasst, an traditionellen Auffassungen festzuhalten. Derartiges kann die Welt niemals leisten. Dies koennen nur Menschen tun.“ (Rorty: Contingency, Irony and Solidarity. Cambrigde University Press, New York 1989, p. 6) Derartige Programme oder Geschichten anderer Menschen verhindern Gespraeche ohne Programme. Fuer die Zukunft brauchen Menschen andere Fragen an die Gegenwart. Denn „Menschen [koennen] sich keine Geschichten darueber erzaehlen, wie sie sich – so wie von der Gegenwart – ein Bild von der Zukunft machen koennten.“ (ebd. p.182) Sie koennen sich die Menschengeschichte u. a. mit Hilfe anderer Geschichten und Programme neu erzaehlen und so durch neue Geschichten zu Neuem angesteckt werden. (Vgl. Rorty: Vier Formen des Schreibens von Philosophiegeschichte. In ders.: Wahrheit und Forschritt. Franfurt 2003, S. 355 – 394.)
 

Das Problem des ‚mentalen‘.



Rortys Erlaeuterungen zur „Erfindung des Mentalen“ (Der Spiegel der Natur. Frankfurt am Main 2008, 6. Aufl. S. 27 – 84.) die eine Fuelle von Hinweisen auf Details zu diversen philosophischen Ansaetzen aus Vergangenheit und Gegenwart enthalten, dienten keiner eigenen Theorie, sondern der Therapie der Philosophie, genauer der Philosophen. „Ein Leser, der nach einer neuen Theorie ueber die hier abgehandelten Themen sucht, wird enttaeuscht werden. Wenn ich »Loesungen des Leib-Seele Problems« diskutiere, so geschieht dies nicht in der Absicht, eine Loesung vorzuschlagen, sondern um zu verdeutlichen, warum es meiner Auffassung nach hier ein Problem gar nicht  gibt … Das Buch ist … therapeutisch.“ (Spiegel, S.17) Diese Therapie orientiert sich an Kenntnissen philosophischer Literatur, den darin zu findenden Konzeptionen und Ideen, die auch im philosophischen Diskurs der Gegenwart auftauchen. Sie beschreibt Sackgassen mit dem Hinweis darauf – anstatt rueckwaertsgewandt zu philosophieren -, sich mit den Problemen zu befassen, die Menschen heute bewegen. Insofern ist der Spiegel ein Buch fuer alle diejenigen, die davon ausgehen, dass ‚philosophieren‘ eine lohnenswerte Taetigkeit sein koennte. Rortys ganz andere philosophiegeschichtlichen Sichtweisen koennen zu neuen eigenen anregen.

Aus dieser ‚therapeutischen‘ Perspektive thematisierte Rorty ‚mentales‘ hinsichtlich Ursachen und dessen Folgen. Wenn herausgefunden werden soll, wie die Philosophie zu ihren gegenwaertigen Problemen gekommen ist, dann sei die Frage relevant: Wie kam es denn, dass Philosophen begannen, sich mit Geist, also mit Mentalem beschaeftigten? Es duerften unterschiedliche Fragen gewesen sein, die die Imagination frueherer Generationen angeregt haben, etwas zu fantasieren, das diesen Fragestellungen als Antwort dienen konnte. Kosmologische Vorstellungen der Antike gehoeren als Antworten dazu genauso, wie medizinische, mathematische … etc. Zu den philosophischen zaehlte fuer Rorty u. a. auch der Wunsch, feste Fundamente fuers Wahrnehmen und Handeln finden zu koennen. Antike Philosophen, die hier zurueckhaltend waren – wie die Akademiker, Skeptiker, Epikuraeer und Sophisten -, wurden aus meiner Sicht bis heute mehrheitlich nicht ernst genommen und an den Rand der philosophischen Gemeinde gedraengt.

Aus den ersten tastenden griechischen Loesungsversuchen fuer feste Fundamente haben spaetere Philosophengenerationen im Hinblick auf eigene Fragestellungen Antworten konstruiert, die eher weniger denen der philosophischen Vorfahren entsprochen haben duerften. Beispielsweise wurde ignoriert, dass die Nachfolger Platons, die Akademiker, ihre Bemuehungen in dieser Hinsicht einstellten. Im Gegenteil: Dem ‚mentalen‘ wurden sogar weitere Vermoegen zugeordnet, was als Fortschritt der Philosophie aufgefasst wurde. Das von Letztbegruendungen belastete Philosophieren des Mittelalters und der Neuzeit hatte die ’spielerische Offenheit‘ ionischer und attischer Philosophen nicht bemerkt oder fuer verbesserungsbeduerftig gehalten. Mittelalterliche und neuzeitliche Philosophen gingen – unter Maszgabe der einen Wahrheit – nun davon aus, dass die Griechen mit „nous“ etwas Wesentliches entdeckt hatten, das nur dem Menschen eigen war und seine einzigartige Stellung begruenden konnte.

Die griechische Setzung des Mentalen – meinte Rorty – duerfte aber willkuerlich entstanden sein, um z. B. Arten von Kenntnissen unterscheiden zu koennen – u. a. Kenntnisse ueber Geometrie von Kenntnissen ueber bauhandwerkliche Taetigkeiten. Man erfand ein ‚inneres Auge‘, nannte es ’nous‘, um analog zu Konkretem operieren und ueber Unterschiede reden zu koennen.  Diese Unterscheidung diente wohl auch dazu, zu erklaeren, weshalb dem Menschen nahe stehende Lebewesen bestimmte Phaenomene vermissen lieszen. Diese „Erklaerungsmodelle“ (Gregory Bateson), Provisorien bzw. Ersatz fuer ‚wissen‘ angesichts von Luecken im Weltbild koennten sich eventuell nebenbei im Gespraech ueber philosophische Ideen ergeben haben.  Es gab „… keinen besonderen Grund, warum diese visuelle Metapher von der Phantasie der Begruender des westlichen Denkens Besitz ergreifen konnte. Es geschah jedoch, und die Philosophen arbeiten noch immer die Konsequenzen aus. Sie analysieren die Probleme, die sich daraus ergaben, und stellen die Frage, ob an der Sache (’nous‘) nicht ‚doch etwas dran‘ gewesen sein mochte. Die Vorstellung der Kontemplation … macht das ‚innere Auge‘ [’nous‘, ‚intellectus‘, ‚Geist‘] zum unausweichlichen Modell des besseren Wissens.“ (Spiegel, S. 51)

Platon, Plotin und in der Folge Augustin Thagaste u. a. m.  entwickelten daraus sagenhafte Welten voller unwandelbarer Ideen, gleich bleibender Urteile (‚rationes aeternae‘), die ewigen goettlichen Ratschluessen glichen und die kirchliche Institutionen – insbesondere den hoechsten kirchlichen Wuerdentraeger – mit goettlicher Lehr-Autoritaet ausstatteten. Gemeinsam mit christlichen Auffassungen entstand so das Herzstueck der Philosophie, die Metaphysik, das ohne ‚mentales‘ und die zugehoerigen Hypostasierungen, „Metaphyzismen“ (Rolf Reinhold) wie Verstand, Vernunft … nicht mehr vorstellbar war. Dieses ‚mentale‘ war nicht nur selber unsagbar, also geheimnisvoll, sondern auf geheimnisvolle Weise mit Unwandelbarem bzw. Ewigem verbunden. Geheimnisumwittertes war immer schon anziehend für die menschliche Neugierde. So ungefaehr avancierte ‚mentales‘ zum Hauptgebiet und Selbstverstaendlichen der Philosophie. Der Leib-Seele-Dualismus brachte ferner Erkenntnistheorien und spekulative Systeme hervor. Dies fuehrte ueber die „Lehre der Begriffe“ in der Neuzeit, die Kant als spontane Hervorbringungen des Verstandes bzw. der Vernunft charakterisierte, bis hin zur modernen Sprachphilosophie. Die Idee, ‚mentales‘ sei etwas,  wurde auch hier implizit wirksam, um nun im Phaenomen „Sprache“ fundamentale Probleme des Leib-Seele-Dualismus zu loesen, was bisherigen Generationen mit der Metapher „inneres Auge“ bzw. „Geist“ nicht gelungen war. Doch bis heute haben wir nach 2000 Jahren – auszer den intuitiven Behauptungen vieler – „… nicht den leisesten Begriff davon, was das Mentale ist; …“ (Spiegel, S. 43)

Die Unkenntnis ueber ‚mentales‘ ist der entscheidende Hinweis Rortys, der sich im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte und seiner Erscheinungen  immer wieder ergibt, so wie sie im Laufe der Geschichte und Ausarbeitungen von Philosophien vorkommen.  ‚Schmerz‘ war bisher vom ‚mentalen‘ ausgenommen, obwohl ‚Schmerz‘ bzw. die Abstraktion ‚Schmerzhaftigkeit‘ so aehnlich wie ‚geistig‘ und ‚Geist‘, ‚bewusst‘ und ‚Bewusstsein‘,… „Familienaehnlichkeiten“ (Spiegel, S.34) haben, die z. B. in „funktionalen Zustaenden“ bestehen. So betrachtet „…ist der Gedanke eines  mentalen Stoffes, aus dem Schmerzen und Meinungen bestehen, …genauso sinnvoll oder sinnlos wie der Gedanke eines Stoffes, …“ ( Spiegel, S. 43) aus dem Empfindungen, Abstraktionen, Vorstellungen, Erinnerungen … etc. bestehen koennten.

Fazit: Für Rorty ergab sich, dass Metaphern die Philosophie dominieren (Spiegel, S. 22). Es folgt ‚mentales‘ kann als ueberholt angesehen werden. Abgeschafft wird zusammen mit dem spaeten Heidegger, Dewey und Wittgenstein „…die gemeinsame Idee »des Bewusstseins« als eines besonderen, in einem inneren Raum angesiedelten Forschungsbe­reichs… Sie verabschieden Erkenntnistheorie und Metaphysik als moegliche Disziplinen. Ich sage »verabschieden« und nicht »argumentativ wider­legen«, denn ihre Einstellung zur traditionellen Problematik gleicht jener der Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts zu den Problemen der Scholastik. … Vielmehr erblicken sie die Moeglichkeit einer alternativen Lebens­form, fuer die das vom siebzehnten Jahrhundert ueberkommene Vokabular philosophischer Reflexion so inhaltsleer erschiene wie das Vokabular der Philosophie des dreizehnten Jahrhunderts fuer die Aufklaerung. Man hat nicht unbedingt eine bestimmte Kantische Doktrin zu widerlegen, um die Moeglichkeit einer nachkantischen Kultur geltend zu machen, in der kein allumfassendes Fach mehr die uebrigen Disziplinen legitimiert und begruendet. So hatte man auch nicht unbedingt die Behauptung des hl. Thomas, Gottes Existenz lasse sich aus natuerlicher Vernunft beweisen, zu widerle­gen, um die Moeglichkeit einer Kultur zu sehen, in der es entweder keine Religion mehr gab oder keine Verbindung zwischen Religion und Wissenschaft oder Politik. Wittgenstein, Heidegger und Dewey fuehrten uns in ein Zeitalter »revolutionaerer« Philosophie (im Sinne von Kuhns »revolutionaerer« Wissenschaft), indem sie neue Landkarten des Terrains (des gesamten Panoramas menschli­cher Taetigkeiten) entwarfen, auf welchen die vormals dominanten Merkmale einfach nicht verzeichnet waren.“ (Spiegel, S. 15f)

Auch die Sprachphilosophie darf als ueberholt angesehen werden: „Die »analytische« Philosophie eine neue Variante des Kantianismus, sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dasz sie sich das Vorstellen nicht als eine mentale, sondern als eine sprachliche Taetigkeit denkt und nicht eine »transzendentale Kritik« oder eine Psychologie, sondern Sprachphilosophie fuer die Disziplin haelt, die die Grundlegung Erkenntnis leistet. Ihre Betonung der Rolle der Sprache aendert Cartesisch-Kantische Problematik nicht wirklich (wie ich vierten und im sechsten Kapitel zeigen werde) und verhilft Philosophie daher auch nicht zu einem neuen Selbstverstaendnis. Die analytische Philosophie legt sich immer noch darauf fest, der Wissenschaft – und demnach der Gesamtheit der Kultur – ein zeitloses neutrales Bezugssystem anzubieten.“ (Spiegel, S. 18)

Rorty wird angesichts solcher Aussagen gern vorgeworfen, er habe das Mentale aus der Philosophie eliminiert. Meine Lektuere und die hier notierte Zusammenfassung der Evolution der Metaphysik legt mir die Behauptung nahe, dass „mentales“, ‚bewusstes‘, ‚geistiges‘ … etc. nicht wirklich vorhanden waren. Es handelt sich dabei eher um riesengrosze Spekulationen – meinem Empfinden nach dem in der Wirtschaft üblichen schwindelerregenden Handel mit Leeraktien -, die man fuer bare Muenze genommen hat. Rolf Reinhold bezeichnet diese  Metaphern als „riesengrosze Wolken“. Fritz Mauthner meinte vor ca.  100 Jahren Metaphern wie Geist und Bewusstsein, seien im Begriff zu verschwinden.  (Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 1923, 2. Aufl. Band 1, S. 174-182. BEWUSSTSEIN) Die von Rorty erwaehnte „privilegierte Zugangsweise“ ist das vermeintlich „unkorrigierbare Wissen“ um diese Wolken. Rorty gab eine Fuelle von Hinweisen, um dazu anzuregen, dass jeder sein festgefahrene Wissen um ’nichts‘ hinter sich lassen kann, wenn er es moechte.

Rorty und das Unbehagen in der Philosophie



Aeuszerungen von Juergen Habermas ueber Rortyphilosophie.

  • „Rorty folgt Nietzsche in der …radikalen Umwertung platonischer Unterscheidungen. Rorty teilt Wittgensteins Auffassung, dass das falsche, in sich verhakte Leben auf falsche, verstellende Begriffe zurueckgeht. …
  • Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktische Bedeutung zurueckzugeben, die sei einmal beansprucht hat. Sie soll, indem sie dem einzelnen Orientierung anbietet, und den moralischen Fortschritt der Menschheit befoerdert, den Zustand der Welt verbessern helfen. …
  • Freilich soll die Philosophie dieses Ziel nur verwirklichen koennen, in dem sie sich als Philosophie aufhebt … durch eine mit und an der Philosophie vollzogene Umwaelzung. …
  • Sind erst einmal die Nutzlosigkeit der ontologischen Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, die Sinnlosigkeit der epistemologischen Unterscheidung zwischen Sein und Schein, die Ueberfluessigkeit der semantischen Unterscheidung zwischen wahr und falsch durchschaut, kann sich die philosophische Arbeit an praktischen Zielen … ausrichten.
  • [Rorty arbeitet professionell.] Er ist ein eminent scharfsinniger, hoch produktiver, hartnaeckig analysierender, neugieriger und kontinuierlich lernender Philosoph auf der Hoehe seiner Profession. … innovativ treibende Kraft [bei Debatten] …
  • [Rorty kann] aus vielen detailbesessenen Argumentationen groszraeumige Schluesse … ziehen. …
  • [Rorty schrieb das] bahnbrechenden Werk Philosophy and the Mirror of Nature
  • Er moechte den [Wahrheitsbegriff] … durch den Begriff der gerechtfertigten Behauptung ersetzen, …
  • [Es] lockern sich mit dem Verzicht auf eine kontextunabhaengige Wahrheitsgeltung und mit der Verabschiedung einer objektiven, von unserem Geiste unabhaengigen Welt imaginaere Zwaenge, denen wir uns ganz ohne Not unterworfen haben. …
  • [Wir brauchen Erfindungen] neuer Vokabulare fuer ein jeweils veraendertes Selbst- und Weltverstaendnis.
  • Neue Perspektiven, die das uns Bekannte in einem anderen Licht erscheinen lassen und auf neue Weise beschreibbar machen, werden nicht … erzeugt. Sie entstehen mit den einfallsreichen Antworten, die sich manchmal einstellen, nachdem wir uns an quaelenden Antworten lange genug abgearbeitet haben.“

Aus: Juergen Habermas: Richard Rorty und das Entzuecken am Schock der Deflationierung. Laudatio aus Anlass der Verleihung des Meister-Eckhardt-Preises an Richard Rorty am 3.12.2001. In Juergen Habermas(2008): Ach Europa. Kleine politische Schriften. Frankfurt. a. M. (Suhrkamp). S. 15- 23 (Zitate S. 17-23). aus der digitalen Lesprobe

Rorty, Kant und ich

Das was ist, hängt ab von dem, was viele glauben, dass es so sei.

Das kulturell wirksame Konzept einer Philosophie, „… das als ‚Gerichtshof einer reinen Vernunft‘ verfasst wurde, … verdanken wir vor allem Kant, …“ der wiederum in der Tradition Cartesianischer und Lockescher Philosophie stand. (Vgl. Richard Rorty: Philosophy and the mirror of nature. Princeton University Press 2009, S.4.)

Als ich dies vor wenigen Jahren zum ersten Mal las, stimmte ich spontan zu. Rorty‘ s Resuemee schien das meine zu treffen, dass sich mir in Jahrzehnten meines philosophischen Selberlernens nahe gelegt hatte. Zum ersten Mal war mir 10 Jahre vor meiner ersten gruendlichen Rorty-Lektuere deutlich ein verwandter Gedanke bei eigenen Transkriptionen von Texten des Augustin von Thagaste gekommen. Ich hatte mich damals gefragt, wieso der Diskurs zwischen Augustin und seinen Zeitgenossen niemals grundlegende Annahmen bzw. Behauptungen – wie z.B. die Dichotomie von Geist-Seele und Koerper – thematisiert hatte. Vermutlich deshalb, so ergab es sich mir spontan, weil alle seine Gespraechspartner davon ausgingen, dass es so ist. Die Rede Rorty’s vom therapeutischen Wert der Beschaeftigung mit der Philosophiegeschichte hatte sich fuer mich so bestaetigt.  Augustin und seine Zeitgenossen teilten die gemeinsame Auffassung, dass der Mensch sowohl aus Koerper als auch aus Geist bestehe. Ohne diese gemeinsame Auffassung waere ein Diskurs in der Art und Weise nicht gelungen, wie sie u.a. der umfangreiche Briefwechsel des Augustin von Thagaste dokumentiert. Damals trauerte ich diesen Zeiten nach, weil ich in meinen Diskursen erlebte, dass es keinen derartigen Konsens mehr gab – ausser ich blieb unter meinesgleichen, was ich aber nicht wollte. Ich hatte in meinem Alltag mit Menschen unterschiedlichster Auffassungen zu tun und hatte den Wunsch zu kapieren, was sie zu ihren jeweils anderen Auffassungen veranlasste.

Grenzen des Selberdenkens bei Kant

Kant galt zur Zeit meines Studiums als Philosoph, der Selberdenken propagierte. Wie ich spaeter nach Jahren meiner autodidaktischen Kantlektuere resuemierte, konnte er Selberdenken nur im Rahmen bestimmter Parameter denken, die mir im Laufe meines alltaeglichen Handelns fragwuerdig geworden waren. Unter Kantianern – Menschen mit grundsaetzlich Kantischen Auffassungen – wurden meine Fragen nach dem, was sie so selbstverstaendlich mit Vernunft, Verstand und Pflicht bezeichneten, abgewehrt. Mir schien, dass sich fuer Rorty aehnliche Fragen gestellt hatten. Ich folgte seinen Anregungen zu denen sich die von Rolf Reinhold gesellten und wurde bei Kant fuendig. In einem Vortrag in einer universitaeren, interdisziplinaeren AG stellte ich mein Resuemee vor: Ich erlaeuterte, dass Kants ‚Apriori‘ ein ‚Erklaerungsmodell‘ sei, das den Nachweis der von Kant behaupteten ‚apriorischen Anschauungen und Begriffe‘ zwar behauptet, aber letztlich verfehlte. Daher taugten letztere aus meiner Sicht nicht als Anleitung eines interdisziplinaeren Diskurses der Gegenwart. Die Teilnehmer waren ueberwiegend Nichtphilosophen, die aber das kantische Konzept der reinen Vernunft enkulturell erworben und fuer unser Thema ‚Neurophilosophie‘ als irgendwie brauchbar betrachteten.

Textstellen aus der Kritik der reinen Vernunft – wie folgende – benutzte ich damals, um meine Schlussfolgerungen kapierbar zu machen: „Ich verstehe unter einer transzendentalen Eroerterung die Erklaerung eines Begriffs, als eines Prinzips, woraus die Moeglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird erfordert, 1) dass wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfliessen, 2) dass diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklaerungsart dieses Begriffs moeglich sind.“ (ebd.§3)

Hier wird m.E. ein spezifisch apriorisches Erklaerungsverhalten deutlich: Eines bedingt das andere und es entsteht ein geschlossener Kreis (homöostatisches Prinzip), der nur schwer zu knacken ist und zusaetzlich durch Wortschatz und verzwickte grammatikalische Konstruktionen unklar wirkt. Zirkelschluesse hatte ich frueher selber vollzogen, ohne sie zu bemerken. Hinweise anderer darauf haben mich immer mal wieder nachdenklich gemacht. Mehr duerfte mir mit meinem Vortrag damals auch nicht gelungen sein. Im Gefolge der These, dass alles, was jemand sagt, Menschen perturbiert mit der moeglichen Folge einer Veraenderung, habe ich die Abwehr meiner Thesen zu Kant als verstaendliche Reaktion akzeptiert. Ich vermute, dass auch Rorty die Kritik an seinen Forschungsergebnissen unter aehnlichen Aspekten betrachtet hat.

Die Physis ist marginal – Vernunft und Verstand sind dominant

Kant, so erlaeuterte ich damals weiter, schien der Auffassung zu sein, dass er mit seiner‘ transzendentalen Aesthetik‘ etwas ‚Objektives‘ aufzuzeigen in der Lage sei, das wissenschaftlichen Aussagen das Praedikat  ‚Gewissheit‘ verleihen koenne. Er begann in §1 seine „Kritik der reinen Vernunft“ mit einer knappen Beschreibung darueber, wie er zur Erkenntnis der ‚reinen sinnlichen Anschauungsform‘ des Raumes komme.

„In der transzendentalen Aesthetik … werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, dass wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung uebrig bleibe.“

Eine derartige Akrobatik konnte m.E. nur auf dem Feld Lockescher Erkenntnistheorie gedeihen. Sie setzte nach meinen eigenen Untersuchungen bei Vertretern der Erkenntnistheorie die dichotomische Auffassung Koerper-Geist voraus und sie ging weiter davon aus, dass dem menschlichen Geist alles moeglich sei umzusetzen, was er sich ausdenkt. Mir kam beim Lesen die Kritik des Lukrez an den Agnostikern in den Sinn, die er als Leute bezeichnet, die versuchten in der ‚eigenen Fussspur gehend gleichzeitig auf dem Kopf zu stehen‘. Mir war es vergleichsweise bisher unmoeglich gewesen, das zu leisten, was Kant hier als Weg zur „Erkenntnis des Apriorischen“ vorgab. Kant selbst schien sich der Problematik dieses Erkennens moeglicherweise bewusst gewesen zu sein, denn er erklaerte gleich auf der ersten Seite seiner „Kritik der reinen Vernunft“,  dass man um das Apriorische ‚absondern‘ zu koennen, ‚lange Uebung‘ brauche.

‚herausfinden‘ statt ‚beweisen‘

Dies kann moeglicherweise genuegen, um zu erlaeutern, wieso die Zustimmung zu Rorty’s Schlussfolgerungen, fuer mich in jüngster Zeit naeher lag, als die Abwehr seiner Ergebnisse. In meinen metaphysischen Zeiten hatte ich es vermieden mich mit Rorty zu beschaeftigen. Ich habe inzwischen herausgefunden, dass ‚philosophieren‘ und ‚handeln‘ besser funktionieren, wenn man Kantische Parameter verlaesst und sich auf ‚hingehen zu den Dingen‘ (Rolf Reinhold) und ‚verzichten‘ auf weitreichende Behauptungen‘ wie „Geist“ (Richard Rorty) einlaesst. Dieses ‚besser funktionieren‘ laesst sich nicht „beweisen“ – eine von zahlreichen Selbstverständlichkeiten unserer Kultur – dies kann jeder nur fuer sich selber herausfinden, wenn er dies moechte.

Es gilt auch: Die bessere Qualitaet von Rorty’s Idee einer ‚edifying philosophy‘ laesst sich genauso wenig „beweisen“, wie es Kant gelungen ist, seine ‚Aprioritaeten“ – eine hegelsche Bezeichnung – zu beweisen. Kant ging ganz menschlich selbstverstaendlich und gewohnheitsmaessig von dem aus, was er selber erlebt, erworben und in diesem Rahmen vorgefunden hatte: Bestimmte kulturelle Denk- und Handlungsgewohnheiten, die ihm wertvoll geworden waren und die er verteidigte, nachdem der Schotte Hume ihn aus seinem ‚dogmatischen Schlummer‘ geweckt hatte. Rorty wertete philosophierend auch vor dem Hintergrund ganz bestimmter kultureller Denk- und Handlungsgewohnheiten seine eigenen Forschungsergebnisse aus. Was Rorty von Kant ganz deutlich unterschied, war seine Entscheidung für eine gemeinschaftsstiftende Pragmatik der Wissenschaften und des Miteinanders  gegen die Gepflogenheit, weitere theoretische Behauptungen über bereits theoretisch Behauptetes zu deren Kriterien zu erheben.