Wie Rorty zur Philosophie kam.

 

Trotzki und die Wilden Orchideen (1992)

Aus „Philosophie und Soziale Hoffnung“ (1999)

von Richard Rorty

Transposition von Monika Wirthgen, Hamburg

Original: „Trotsky and the Wild Orchids.“



Wenn irgendetwas dran ist, dass derjenige die beste intellektuelle Position innehat, der gleichermassen heftig von Linken wie von Rechten angegriffen wird, dann bin ich in guter Verfassung.

„zynisch“ und „nihilistisch“

Von den konservativen Kulturkaempfern werde ich oft als der relativistische, irrationalistische, dekonstruierende, spoettische, selbstzufrieden grinsende Intellektuelle zitiert, dessen Schriften den moralischen Charakter der Jugend schwaeche. Neal Kozody, der im monatlich erscheinenden ‚Bulletin des Kommittes fuer die Freie Welt‘ schreibt – die Organisation ist bekannt wegen ihrer Heftigkeit, mit der sie gegen Anzeichen moralischer Schwaeche zu Felde zieht – klagt meine ‚zynische und nihilistische Sicht‘ an. Er sagt, ‚es reicht ihm nicht, dass die amerikanischen Studenten bloss geistlos sein muessen; nein, er moechte sie dazu bewegen sich fuer Geistlosigkeit zu engagieren‘.

„ironistisches Vokabular“

Richard Neuhaus – ein Theologe, der daran zweifelt, dass Atheisten gute amerikanische Buerger sein koennen – aeusserte, dass das ‚ironistische Vokabular‘, mit dem ich meine Position vertrete – weder als allgemein beherrschbare Sprache fuer Buerger einer Demokratie tauge, auch nicht dazu, auf intellektuelle Weise die Feinde der Demokratie abzuwehren, noch dafuer,  die Gruende, die fuer die demokratische Gesellschaftsform sprechen, der naechsten Generation zu uebermitteln.

„Amerika aufgegeben“

Meine kritische Beurteilung von Allan Blooms „The Closing of the American Mind“ nahm Harvey Mansfield – kuerzlich von Praesident Busch fuer den ‚Nationalen Rat fuer Menschlichkeit‘ ernannt – zum Anlass, zu sagen, ich habe ‚Amerika aufgegeben‘ und ich ‚arbeite sogar daran Deweys Bedeutung herabzusetzen‘. (Mansfield hat kuerzlich Dewey als ‚mittelmaessigen Uebeltaeter‘ bezeichnet.)

„für Ausbildungsstandards“

John Searle – sein Kollege im Rat und mein philosophischer Weggefaehrte – denkt, dass die Standards der Ausbildung an amerikanischen Universitaeten und Colleges nur dann erfolgreich umgesetzt werden koennen, wenn Menschen ihre Sichten auf Wahrheit, Wissen und Objektivitaet aufgeben und dass ich mein Bestes gebe, darauf immer wieder hinzuweisen.

„intellektueller Snob“

Grade jetzt entdeckte Sheldon Wolin – Sprecher der Linken – viel Aehnlichkeit zwischen mir und Allan Bloom: Wir sind beide, sagt er, intellektuelle Snobs, die sich nur um die muessiggaengerische, hochgezuechtete Elite kuemmern, zu der wir auch gehoeren. Keiner von uns habe den Farbigen oder anderen Randgruppen der amerikanischen Gesellschaft auch nur irgendetwas zu sagen.

„angepasster Kavalier“

Terry Eagleton, Britaniens fuehrender marxistischer Philosoph, laesst Wolins Sicht widerhallen. Eagleton sagt, dass ‚in [Rortys] idealer Gesellschaft die Intellektuellen ‚Ironisten‘ sein werden, die sich damit beschaeftigen werden als angepasste Kavaliere in laessiger Manier ihren eigenen Glauben zu leben, waehrend die Masse – der derartige Selbstironisierung eine umstuerzlerische Waffe zu sein scheint – fortfahren wird, die Flagge zu gruessen und das Leben ernst zu nehmen‘.

„selbstzufriedene, unverantwortliche Ideologie“

Der Spiegel meinte, ich ‚versuche die Yuppie-Regression gut aussehen zu lassen‘. Jonathan Culler, einer von Derridas Spitzenschuelern und -interpreten, sagt, dass meine Version des Pragmatismus ‚insgesamt zur Aera Reagan passe‘. Fuer Richard Bernstein sind meine Sichten ‚kaum mehr als eine ideologische – als zeitgemaesser postmoderner Diskurs aufgemotzte  – Verteidungsrede im Sinne einer altmodischen Version des Liberalismus in Zeiten des Kalten Krieges.‘ Das Lieblingswort der Linken fuer mich heisst ’selbstzufrieden‘, das der Rechten ‚unverantwortlich‘.

„schulmeisternd“

Teilweise erklaert sich die Feindseligkeit der Linken durch die Tatsache, dass die meisten Leute, die Nietzsche, Heidegger und Derrida so sehr wie ich bewundern – die Mehrzahl  von ihnen ordnet sich selbst entweder als Postmodernisten ein oder wird (so wie ich) unfreiwillig darunter gerechnet – , daran teilnehmen, was Jonathan Yardley ‚America Sucks Sweepstakes‘ [Amerikas ekelhaftesten Wettbewerb] nannte. Teilnehmer an diesem Event konkurrieren miteinander darum, bessere, zunehmend galliger schmeckende Beschreibungsweisen fuer die Vereinigten Staaten zu finden. Sie betrachten Amerika als Verkoerperung von allem, was an der vollmundigen westlichen Postaufklaerung falsch ist. Sie sehen uns als ‚disziplinierende Gesellschaft‘, wie Foucault es ausdrueckte, beherrscht durch den abstossenden Ethos eines ‚liberalen Individualismus‘, der Rassismus, Sexismus, uebersteigertes Konsumverhalten und republikanische Praesidenten hervorbringt.

„unbegrenzt viele demokratische Sichten“

Ich dagegen sehe Amerika in freundlicherem Licht, so wie Whitman und Dewey es tun. Fuer mich ist Amerika das Tor, das die Aussicht auf unbegrenzt viele demokratische Sichten emoeglicht. Ich denke, dass unser Land – trotz seiner vergangenen und gegenwaertigen Graeueltaten und Untugenden, und trotz seines ungebrochenen Eifers Narren und Gauner in hohe Regierungsaemter zu waehlen – ein gutes Beispiel fuer die beste Gesellschaft ihrer Art ist, die je so weit entwickelt worden ist.

„Verstoss gegen die verfassungsmaessige Ordnung“

Die Feindseligkeit der Rechten erklaert sich weitgehend durch die Tatsache, dass ganz rechte Denker nicht davon ausgehen, dass es genuege, demokratische Gesellschaften voranzubringen. Sie meinen, man muesse ausserdem glauben koennen, dass diese objektiv gut sind, weil die Institutionen solcher Gesellschaften sich auf allgemeingueltige, rationale Prinzipien beziehen. Das bedeutet insbesondere fuer jemand, der so wie ich Philosophie lehrt, dass man von ihm erwartet, dass er der jungen Generation nicht nur erzaehlt, dass ihre Gesellschaft zu den besten ihrer Art gehoert, die je so weit wie die ihre entwickelt wurde, sondern dass diese Gesellschaft zugleich Wahrheit und Vernunft verkoerpere. Verweigert man derartiges zu sagen, zaehlt dies als ‚Verstoss gegen die verfassungsmaessige Ordnung‘ – zu deren Einhaltung man als Angestellter einer oeffentlichen Institution verpflichtet sei -,  mithin als Flucht aus beruflicher und moralischer Verantwortung.

„Sichten wie Nietzsche und Dewey“

Meine eigenen philosophischen Sichten – Sichten, die ich mit Nietzsche und Dewey teile – verbieten es mir, derartiges zu sagen. Ich habe kaum Verwendung fuer Bezeichnungen wie ‚objektiver Wert‘ und ‚objektive Wahrheit‘. Ich denke, dass die sogenannten Postmodernen mit ihrer Kritik an der traditionellen philosophischen Rede ueber ‚Vernunft‘ groesstenteils richtig liegen.

„widersprechen um zu widersprechen“

So wie meine philosophischen Sichten die Rechten verprellen, so verprellen andererseits meine politischen Vorlieben die Linken. Manchmal sagen Kritiker von beiden Seiten des politischen Spektrums, dass meine Sichten so fremdartig sind, dass sie bloss unsinnig erscheinen. Sie unterstellen, dass ich irgendetwas sage, damit es anderen die Sprache verschlaegt, so als ob es halt ausschliesslich meinem Vergnuegen diene, anderen zu widersprechen. Das schmerzt.

„mit Sinn und Verstand“

Aus diesem Anlass habe ich im Folgenden versucht, etwas darueber zu sagen, wie ich in meine gegenwaertige Lage gelangt bin – ich erzaehle davon, wie ich zur Philosophie gekommen bin und dass ich mich bald danach in einer Situation wiederfand, in der ich ausser Stande war, Philosophie so zu betreiben, wie ich es mir urspruenglich vorgestellt hatte. Vielleicht kann der Bericht ueber dieses Stueck aus meinem Leben – auch dann, wenn meine Auffassungen ueber die Beziehung zwischen Philosophie und Politik eigenartig sind – klaerend dazu beitragen, dass ich mir meine Sichten mit Sinn und Verstand angeeignet habe.

Faszination Marxismus

Als ich 12 Jahre alt war, gehoerten zwei rotgebundene Baende zu den auffallendsten Buechern im Regal meiner Eltern. Es waren ‚Der Fall Leon Trotzki‘ und ‚Nicht Schuldig‘. Sie enthielten eine Zusammenfassung des Berichtes der ‚Dewey Untersuchungskommission‘ ueber die Moskauer Prozesse. Niemals habe ich sie mit der gleichen Faszination gelesen, wie z.B. Buecher in der Art wie das von Krafft-Ebing: Sexuelle Psychopathie, aber ich dachte so ueber sie wie andere Kinder ueber ihre Familienbibel: Es waren Buecher, die eine rettende Wahrheit und eine hohe moralische Gesinnung verbreiteten. Da ich ein wirklich guter Junge sein wollte, so nahm ich mir vor, zusaetzlich zum Bericht der Dewey Kommission auch Trotzkis ‚Geschichte der Russischen Revolution‘ zu lesen. Mehrmals habe ich angefangen es zu lesen, habe es aber niemals bis zum Ende geschafft. So kam es, dass fuer mich in den Vierzigern des 20. Jahrhunderts die Russische Revolution und ihr Verrat durch Stalin, die Bedeutung hatte, wie vor 400 Jahren fuer fruehreife, kleine Lutheraner die Menschwerdung Gottes und ihr Verrat durch die Katholiken .

Eltern

Mein Vater begleitete John Dewey als PR-Mann fast die ganze Zeit waehrend dessen Reise nach Mexiko im Auftrag der Untersuchungskommission, bei der Dewey den Vorsitz hatte. 1932 brachen meine Eltern mit der Amerikanischen Kommunistischen Partei und wurden vom Daily Worker unter die Trotzkisten eingeordnet. Dies haben sie mehr oder weniger akzeptiert. Als Trotzki dann 1940 ermordert worden war, hoffte John Frank, einer von Trotzkis Sekretaeren, dass die GPU moeglicherweise nicht auf die Idee kaeme, ihn in einem kleinen abgelegenen Ort am Delaware zu suchen, wo wir grade lebten. Er war mehrere Monate unter einem Pseudonym unser Gast in Flatbrookville. Man hat mich davor gewarnt, seine wahre Identitaet preiszugeben, obwohl es zweifelhaft ist, dass meine Mitschueler in der Walpack Grundschule ueberhaupt Interesse an meiner Indiskretion gehabt haetten.

„anständige Menschen sind Sozialisten“

Ich wuchs auf in dem Bewusstsein, dass alle anstaendigen Menschen, wenn nicht Trotzkisten, so doch wenigstens Sozialisten waren. Ich wusste auch, das Stalin nicht nur Trotzkis Ermordung, sondern auch die von Kirov, Ehrlich, Alter und Carlo Tresca befohlen hatte. (Tresca wurde in den Strassen New Yorks niedergeschossen. Er war ein Freund der Familie gewesen.)

„Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit“

Ich wusste, dass arme Leute solange unter Unterdrueckung zu leiden haetten, bis der Kapitalismus ueberwunden waere. Waehrend meines 12. Winters trug ich als unbezahlter Buerojunge Entwuerfe fuer Pressemeldungen vom Buero der „Arbeiter-Verteidigungs-Liga“ am Gramercy Park (wo meine Eltern arbeiteten) um die Ecke zum Haus von Norman Thomas (Praesidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei) und auch zum Buero von A. Philip Randolph in der „Genossenschaft der Pullmann Car Gepaecktraeger“ in der 125. Strasse. Ich las gern in der U-Bahn in den Papieren, die ich bei mir trug. Sie erzaehlten mir eine Menge darueber, was Fabrikbesitzer Gewerkschaftsorganisatoren antaten, was Plantagenbesitzer den Paechtern und was die „Gewerkschaft der weissen Lokomotivfuehrer“ den farbigen Heizern (deren Jobs Weisse haben wollten, nachdem die Dampfloks durch Dieselloks ersetzt worden waren). So also war mir mit 12 Jahren klar, dass es als Mensch darauf ankam, das Leben dem Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit zu widmen.

„Tibet und wilde Orchideen“

Aber ich hatte ausserdem ganz persoenliche, geheimnisvolle, abgehobene und nicht mitteilbare Interessen. In frueheren Jahren lagen diese in Tibet. Ich schickte dem neu inthronisierten Dalai Lama ein Geschenk, begleitet von herzlichen Glueckwuenschen an einen achtjaehrigen Kameraden, der etwas gut gemacht hatte. Wenige Jahre spaeter, als meine Eltern begannen ihre Zeit zwischen Chelsea Hotel und den Bergen im Nordwesten New Jerseys aufzuteilen, verschoben sich diese Interessen auf Orchideen. In diesen Bergen gab es, ungefaehr 40 Arten wilder Orchideen und ich fand schliesslich 17 davon. Wilde Orchideen waren selten und ziemlich schwierig zu entdecken. Ich war enorm stolz auf mich, dass ich die einzige Person im ganzen Umkreis war, die wusste, wo sie wuchsen, wie ihre lateinischen Namen waren und wann sie bluehten. Wenn ich in New York war, ging in gern in die OEffentliche Buecherei in der 42. Strasse, um in einem Botanikbuch ueber Orchideen der oestlichen Staaten aus dem 19. Jahrhundert Neues zu erfahren oder etwas zum wiederholten Male zu lesen.

„Sexualitaet“

Ich war nicht ganz sicher, weshalb diese Orchideen so wichtig waren, aber ich war ueberzeugt davon, dass sie wichtig waren. Sicher war ich, dass unsere edlen, reinen und keuschen wilden nordamerikanischen Orchideen den protzigen, hochgezuechteten, tropischen Orchideen, die in den Blumenlaeden angeboten wurden, moralisch ueberlegen waren. Ich war auch davon ueberzeugt, dass eine tiefe Bedeutung in der Tatsache lag, dass die Orchidee die letzte und hoechst komplexe Pflanze war, die sich im Lauf der Evolution entwickelt hatte. Zurueckblickend vermute ich, dass darin eine Menge sublimierter Sexualitaet verwickelt war (Orchideen sind bekanntlich eine erotisierende Blumenart). Moeglich, dass mein Wunsch alles ueber Ordchideen zu lernen, was es zu lernen gab, verknuepft war mit meinem Wunsch alle die Woerter zu verstehen, die Krafft-Ebing verwendete.

„Missbilligung Trotzkis für wilde Orchideen“

Jedoch dieses Interesse an Orchideen, die in sozialer Hinsicht voellig nutzlos waren, loeste in mir Unbehagen aus. Irgendetwas Zweifelhaftes war mit diesem Geheimnis verbunden. Ich hatte (dank des riesigen Raumes freier Zeit, den man einem klugen, rotznaessigen, in sich gekehrten Einzelkind ueberlassen hatte)Teile von Marius dem Epikuraeer und ebenso Teile der Marxistischen Kritik am ausgepraegten klassischen Kunstsinn von Priestern gelesen. Ich fuerchtete, dass Trotzki (in dessen Buch Literatur und Revolution ich herumgelesen hatte) mein Interesse fuer Orchideen nicht gebilligt haette.

Mein jugendliches Ideal:  ‚Gerechtigkeit und meine Welt in Einklang bringen‘

Mit 15 entkam ich den Rabauken, die mich regelmaessig auf dem Schulhof meiner Highschool verpruegelten (ich vermutete, dass diese irgendwann aussterben, wenn erst einmal der Kapitalimus ueberwunden waere), und besuchte von da an das sogenannte Hutchins College der Universitaet Chicago. (Unsterblich wurde diese Institution durch A.J. Liebling, der sie als ‚groesste Sammlung jugendlicher Neurotiker seit dem Kinderkreuzzug‘ bezeichnet hatte.) Wenn ich ueberhaupt irgendein Projekt im Kopf hatte, dann war dies Trotzki und die Orchideen  zu verbinden. Ich wollte einen intellektuellen oder aesthetischen Rahmen finden, der es mir ermoeglichte ‚Gerechtigkeit und meine Welt in Einklang bringen‘ – eine erregende Phrase, die ich bei Yeats aufstoeberte. Mit ‚meine Welt‘ meinte ich mehr oder weniger die Wordworthianischen Augenblicke, in denen ich mich in den Waeldern rund um Flatbrookville (vor allem in der Gegenwart bestimmter korallroter Orchideen und den kleineren gelben ‚Lady-Slippers‘) von etwas Numinosem, etwas unaussprechlich Wichtigem beruehrt gefuehlt hatte. Unter ‚Gerechtigkeit‘ verstand ich die Befreiung der Schwachen von den Starken, wofuer Norman Thomas und Trotzki standen. Ich wollte einen Weg finden, der es mir erlaubte zugleich ein intellektueller, heiligmaessiger Muessiggaenger und ein Freund aller Menschen zu sein – ein introvertierter, monastisch lebender Eierkopf und ein Kaempfer fuer die Gerechtigkeit. Ich war sehr verwirrt, aber ziemlich sicher, dass ich in Chicago herausfinden wuerde, wie Erwachsene das Kunsttueck schaffen, das ich im Kopf hatte.

Dogmatismus oder Pragmatismus?

Als ich (1946) nach Chicago kam, stellte ich fest, dass Hutchins zusammen mit seinen Freunden Mortimer Adler und Richard McKeon (der Schurke aus Robert Pirsigs Buch ‚Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten‘), die Universitaet Chicago in neo-aristotelische Mystik gehuellt hatten. John Deweys Pragmatismus war das haeufigste Ziel ihres Spottes. Dieser Pragmatismus war die Philosophie von Sidney Hook – einem Freund meiner Eltern – und ebenso die inoffizielle Philosophie der meisten anderen New Yorker Intellektuellen, die den dialektischen Materialimus aufgegeben hatten. Nach Hutchins und Adler war der Pragmatismus ungehobelt, ‚relativistisch‘ und in sich widerspruechlich. Immer wieder wiesen sie darauf hin, dass Deweys Pragmatismus Absolutes voraussetze. Wenn man sich so wie Dewey dazu bekannte, dass ‚Wachstum allein das einzige moralische Ziel‘ sei, dann hatte man keine Moeglichkeit gegen Hitlers Ueberzeugung zu argumentieren, dass unter seiner Herrschaft Deutschland Wachstum erlebt habe, denn es fehle das Kriterium fuer Wachstum. Wenn man sage, dass Wahrheit das ist, was geht, dann reduziere man die Wahrheitsfrage auf die Machtfrage. Nur dann, wenn man sich etwas Ewigem, Absolutem und Gutem – wie dem Gott des Heiligen Thomas oder der von Aristoteles beschriebenen ‚Natur menschlicher Wesen‘ – annaehere, sei es moeglich, den Nazis zu antworten oder die Entscheidung fuer eine soziale Demokratie gegenueber dem Faschimus zu rechtfertigen.

‚meine Welt‘: hohe moralische Ansprüche und philosophisch Absolutes

Diese Suche nach einem verlaesslichen Absoluten war normal fuer die Neuthomisten und fuer Leo Strauss, der Lehrer, der die besten Studenten Chicagos (einschliesslich meines Kommilitonen Allan Bloom) anzog. Die Universitaet Chicago war gespickt mit eindrucksvoll bewanderten Fluechtlingen aus Hitler-Deutschland, unter ihnen war Strauss der meist verehrte. Sie alle schienen darin uebereinzustimmen, dass etwas Profunderes und Bedeutsameres als Deweys Pragmatismus gebraucht wurde, wenn jemand erklaeren sollte, warum es besser waere tot, als ein Nazi zu sein. Dies klang fuer meine 15jaehrigen Ohren ziemlich gut. Hohe moralische Ansprueche und philosophisch Absolutes klangen ein bisschen nach meinen geliebten Orchideen – sie gehörten in ‚meine Welt‘, schwer zu finden, nur einigen wenigen bekannt. Hinzu kam, dass Dewey – seit der Zeit als er fuer alle Menschen unter denen ich aufgewachsen ein Held war – anhaltendem respektlosem Spott ausgesetzt gewesen war. Er war ein leicht zu treffendes Ziel jugendlicher Revolte. Die einzige Frage war, ob diese Verschmaehung eine religioese oder eine philosophische Gestalt annehmen sollte und wie sie mit dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit verbunden werden koenne.

Wie viele meiner Kommilitonen in Chicago hatte ich eine Menge von T.S. Eliot auswendig gelernt. Ich wurde angezogen von Eliots Hinweisen, dass nur institutionell gebundene Christen (und vielleicht unter ihnen nur die Anglikaner) ihre ungesunde Fixierung auf ihre geheimen Begierden ueberwinden und so erst ihren Bruedern mit echter Demut dienen koennen. Aber meine stolze Unfaehigkeit zu glauben, was ich sagte, wenn ich die Allgemeine Beichte rezitierte, fuehrte mich mit der Zeit dahin, meine erbaermlichen Versuche religioes zu werden aufzugeben. So fiel ich in absolutistische Philosophie zurueck.

Mit Platon ‚den Ort jenseits aller Hypothesen und uebersaet mit Orchideen‘ erreichen

Waehrend meines 15. Sommers las ich mich durch Platon und ueberzeugte mich davon, dass Sokrates recht hatte: Tugend war Wissen. Ein derartiger Anspruch war Musik in meinen Ohren, denn ich hatte Zweifel an meinem eigenen moralischen Charakter und den Verdacht, dass meine einzigen Talente eventuelle nur intellektueller Art waeren. Ausserdem musste Sokrates Recht haben, denn nur so konnten ich ‚meine Welt und Gerechtigkeit in Einklang‘ bringen. Nur wenn er recht haette, konnte man hoffen, so gut wie die besten Christen zu werden (So einer wie Alyoscha in Die Brueder Karamazow. Ich konnte mich nicht entscheiden – und kann es noch immer nicht -, ob ich ihn beneiden oder verachten soll.) und so gebildet und klug wie Strauss und seine Studenten. Ich entschied mich fuer Philosophie als Hauptfach. Wenn ich Philosoph wuerde – so stellte ich mir vor – so koennte ich an die Spitze von Platons ‚Liniengleichnis‘ gelangen. An den Ort ‚jenseits aller Hypothesen‘, wo das volle Licht der Wahrheit die gereinigten Seelen der Weisen und Guten erleuchtete: ein elysisches Feld uebersaet mit unkoerperlichen Orchideen. Ich hatte keinen Zweifel, dass jeder, der nur ein bisschen Grips hatte, diesen Ort erreichen wollte. Offensichtlich auch war, dass der Platonismus alle Vorteile einer Religion hatte, ohne dass man jene Demut erwerben musste, welche das Christentum forderte, und zu der ich anscheinend unfaehig war. Aus all diesen Gruenden wollte ich nichts so sehr sein wie eine Art Platoniker und gab zwischen meinem 15. und 20. Lebensjahr mein Bestes.

‚unvereinbare Wünsche‘

Aber es klappte nicht. Ich konnte mir nie darueber klar werden, ob platonische Philosophen die Faehigkeit erreichen wollten, unabweisbare Argumente anzubieten – Argumente, die sie in die Lage versetzten, jeden von dem zu ueberzeugen, was er glaubte (darin war Ivan Karamazow gut) – oder statt dessen ein unaussprechliches, geheimes Glueck (das was sein Bruder Alyoscha zu besitzen schien) zu gewinnen. Das erste Vorhaben besteht darin, argumentative Macht ueber andere zu erwerben – das hiess, sich zu befaehigen, Rabauken davon zu ueberzeugen, dass sie nicht pruegeln sollten, oder reiche Kapitalisten davon zu ueberzeugen, dass sie ihre Macht an eine kooperative, gleichgeschaltete Gemeinschaft abtreten sollten. Das zweite Vorhaben bedeutete, einen Zustand zu erreichen, in dem alle eigenen Zweifel zur Ruhe kaemen, aber der Wunsch zu argumentieren, aufgegeben war. Mir schien beides wuenschenswert, aber ich konnte nicht sehen, wie sie zusammenpassen koennten.

Gibt es nonzirkulaere Beweisketten?

Waehrend ich mich beunruhigt mit dieser belastenden Spannung innerhalb des Platonismus befasste – in irgendeiner Form war es das, was Dewey ‚Die Suche nach Gewissheit‘ genannt hatte – beschaeftigte mich gleichzeitig ein weiteres aufregendes und bereits bekanntes Problem: Wie koennte man es erreichen, eine nonzirkulaere Beweiskette fuer jede umstrittene Position zu einem beliebigen, wichtigen Problem zu entwickeln? Je mehr Philosophen ich las, desto klarer schien mir, dass jeder von ihnen seine Sichten auf erste Prinzipien zurueckfuehren konnte, die inkompatibel mit den ersten Prinzipien der Gegner waren. Niemand von ihnen war jemals an den sagenhaften Ort ‚jenseits aller Hypothesen‘ gelangt. Dort allein schien der neutrale Standort zu liegen, von wo aus diese unterschiedlichen grundlegenden Annahmen ueberprueft werden konnten. Wenn es aber einen derartigen Standort nicht geben sollte, dann schien die ganze Idee von ‚rationaler Sicherheit‘, und die ganze sokratisch-platonische Idee, dass Vernunft Begierde ersetzen koenne, nicht mehr viel Sinn zu machen.

Kein Talent für argumentative Tricks

Fuers erste kam ich aus der Patsche der zirkulaeren Argumentation so heraus, dass ich mich entschied anstelle der Deduzierbarkeit von fraglos gueltigen ersten Prinzipien, philosophische Wahrheit am Kriterium umfassender Kohaerenz zu messen. Aber das half wenig. Denn um Kohaerenz zu erreichen, muss man Widersprueche vermeiden. Der Rat des Heiligen Thomas: ‚Wenn du einen Widerspruch entdeckst, setze einen Unterschied‘ macht dies ziemlich leicht. So weit ich sehen konnte, erschoepfte sich philosophisches Talent weitgehend im ausufernden Gebrauch vieler Unterschiede, die noetig waren, um aus einer dialektischen Sackgasse zu entkommen. Allgemeiner gesagt, gelangte man in eine solche Sackgasse, so war es wichtig das drumherum liegende intellektuelle Terrain in einer Art und Weise aus veraenderten Blickwinkeln quasi neu zu beschreiben, sodass die Einwaende, die der Gegner vorbrachte, irrelevant erschienen, bzw. Zirkelschluesse oder unzulaenglich waren. Ich verwarf die Moeglichkeit fuer derartiges ein Talent zu besitzen. Dass die Entwicklung dieser Geschicklichkeit mich sowohl weise als auch moralisch gut machen koennte, schien mir zunehmend unwahrscheinlich.

nuetzlich sein wollen

Seit dieser ersten Ernuechterung (deren Hoehepunkt ungefaehr in die Zeit fiel, als ich Chicago verliess um meinen philosophischen Doktor in Yale zu machen) habe ich 40 Jahre lang nach einem kohaerenten und ueberzeugenden Weg Ausschau gehalten, um meinen Schlamassel damit, wofuer Philosophie gut ist, zum Ausdruck zu bringen. Die Entdeckung von Hegels ‚Phaenomenologie des Geistes‘ war ein Anfang. Ich sagte mir, waehrend ich dieses Buch las: Unterstellt man, dass es in der Philosophie darum geht, aus dem letzten Philosophen wiederbeschreibend alles herauszuholen, dann kann der Erfindungsreichtum der Vernunft uns grade in diesem Wettbewerb nuetzlich sein. Sie kann mir nuetzlich sein, um das Konzept einer freieren, besseren und gerechteren Gesellschaft zu entwickeln. Wenn Philosophie bestenfalls noch das sein kann, was Hegel ‚die gegenwaertige Zeit im Denken tragen‘ nannte, koennte dies genug sein. Denn indem man die eigene Zeit traegt, koennte der Wunsch entstehen, das zu tun, was Marx wollte, naemlich die Welt veraendern. Wenn also ‚Verstehen der Welt‘ in einem platonischen Sinne – ausserhalb von Zeit und Geschichte – und anderes in dieser Art nicht ging, dann gab es immer noch einen sozialen Nutzen fuer meine Talente und fuer das Studium der Philosophie.

‚froehliche Verpflichtung zu unveraenderlicher Zeitlichkeit‘

Eine ganze Weile nachdem ich Hegel las, dachte ich, die beiden groessten Errungenschaften der Spezie, zu der ich gehoere, waeren ‚Die Phaenomenologie des Geistes‘ und ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ (diese Buch nahm den Platz der wilden Orchideen ein, als ich Flatbrookville verliess und nach Chicago ging). Prousts Faehigkeit intellektuellen Stolz und soziale Herablassung mit dem Weissdorn rund um Combray zusammenzuweben, ausserdem mit der selbstlosen Liebe seiner Grossmutter, mit Odettes orchideenaehnlicher Akzeptanz Swanns sowie die Jupiens fuer Charlus, und mit jedem einzelnen von dem er sonst erzaehlt – gibt jedem von ihnen, das was ihm zusteht, ohne dass er auf die Idee kommt, sie mit Hilfe eines religioesen Glaubens oder einer philosophischen Theorie zu vereinen. Diese Faehigkeit schien mir ebenso erstaunlich wie die Hegels, nacheinander sich ganz auf Empirismus, griechische Tragoedie, Stoizismus, Christentum und Newtonsche Physik einzulassen, und daraus bereit fuer und begierig auf etwas vollkommen anderes hervorzutreten. Hegel und Proust teilten die froehliche Verpflichtung unveraenderlicher Zeitlichkeit – das spezifisch anti-platonische Element in ihrem Werk – das mich so wunderbar beruehrte. Jedes Einzelne, auf das sie stiessen, konnten beide – so schien mir – in eine Erzaehlung einbinden, ohne zu fragen, ob diese Erzaehlung eine Moral habe und wie sie unter dem Blickwinkel der Ewigkeit zu betrachten sei.

Ähnliches wird sichtbar

Ungefaehr zwanzig Jahre spaeter als ich entschied, dass die Bereitwilligkeit des jungen Hegel auf Ewigkeit zu verzichten und bloss noch ein Kind seiner Zeit zu sein, die angemessene Antwort auf die platonische Ernuechterung war, fuehrte mein Weg mich zu Dewey zurueck. Nun kam mir Dewey als ein Philosoph vor, der von Hegel all das gelernt hatte, was dieser zu lehren hatte, naemlich Ewigkeit und Sicherheit zu vermeiden, waehrend er sich selbst gegen den Pantheismus schuetzte, indem er Darwin ernst nahm. Diese Wiederentdeckung Deweys fiel zusammen mit meiner ersten Begegnung mit Derrida (diese verdanke ich meinem Kollegen Jonathan Arac in Princeton) Derrida fuehrte mich zu Heidegger zurueck und ich wurde ueberwaeltigt von der Aehnlichkeit der Kritik Deweys, Wittgensteins und Heideggers am Cartesianismus. Ploetzlich verbanden sich Dinge. So wie ich das sah, gab es einen Weg die Kritik an der Cartesiansichen Tradition mit dem quasi-hegelianischen Historizismus Michel Foucaults, Ian Hackings und Alasdair MacIntryre zu verquicken. Dies alles konnte meiner Meinung nach in eine quasi-heideggerianische Geschichte ueber die belastenden Spannungen innerhalb des Platonismus muenden.

Resümees

‚Der Spiegel der Natur‘ war das Ergebnis dieser kleinen erhellenden Entdeckung. Dieses Buch hatte im Gegensatz zur Ablehnung durch die meisten meiner professoralen Philosophiekollegen genug Erfolg unter den Nichtphilosophen und schenkte mir Selbstvertrauen, das mir bisher gefehlt hatte – doch genuegte es nicht meinem zunehmenden Ehrgeiz. Die darin behandelten Themen – das Leib-Seele-Problem, Kontroversen innerhalb der Sprachphilosophie ueber Wahrheit und Bedeutung, Kuhns Wissenschaftsphilosophie – lagen weit ausserhalb von Trotzki und den Orchideen. Ich war mit Dewey zu guten Bedingungen gelangt; ich hatte meinen historizistischen Antiplatonismus artikuliert; Ich hatte endlich meine Meinung ueber die Richtung und den Wert gegenwaertiger Bewegungen innerhalb der analytischen Philosophie dargestellt; ich hatte die meisten Philosophen, die ich gelesen hatte, typisierten Gruppen zugeordnet. Aber ich hatte kein Wort ueber die Fragen verloren, die mich ueberhaupt dazu veranlasst hatten, Philosophen zu lesen. Der vor 30 Jahren aufgetauchten schlichten Vision vom ‚im Einklang halten‘, derentwegen ich zum College gegangen war, war ich nicht ein Jota naeher gekommen.

Verzicht

Als ich mich intensiv darum kuemmerte, herauszufinden, was falsch gelaufen war, beschloss ich allmaehlich die ganze Idee ‚meine Welt und Gerechtigkeit im Einklang zu halten‘ als Irrtum abzutun – die Beschaeftigung mit Derartigem hatte Platon auf Abwege gefuehrt. Konkreter gesagt, ich entschied, dass nur Religion – ein nichtargumentativer Glaube an ein elterliches Surrogat, das verschieden von meinen wirklichen Eltern, Liebe, Macht und Gerechtigkeit in gleichem Masse verkoerperte – das Kunststueck fertig bringen konnte, das Platon sich vorgenommen hatte zu vollbringen. Seit ich mir nicht mehr vorstellen konnte, dass ich religioes werde – in der Tat hatte ich mich laengst in einen brummigen Saekularisten verwandelt – beschloss ich, dass ein derartiges Kunststueck ausserhalb der Reichweite eines Philosophen lag, das zu vollbringen einen atheistischen Selbstbetrug darstellte. So entschied ich mich, ein Buch darueber zu schreiben, wie ein intellektuelles Leben aussehen koennte, wenn jemand vorhabe, den Platonischen Versuch aufzugeben  ’seine Welt und Gerechtigkeit im Einklang zu halten‘. In diesem Buch – Kontingenz, Ironie und Solidaritaet – behaupte ich, es ist nicht notwendig, dass jemand sein eigenes Aequivalent zu Trotzki und meinen wilden Orchideen miteinander verknuepft. Vielmehr sollte man sich von der Versuchung frei machen, die eigene moralische Verantwortung fuer andere mit der eigenen Beziehung zu einzelnen Dingen oder einzelnen Menschen verbinden zu wollen, die man mit Herz und Verstand liebt (oder so man moechte, Dinge und Menschen mit denen man leidenschaftlich verbunden ist). Fuer manche Menschen mag beides zusammentreffen: Unter Umstaenden fuer derart glueckliche Christen, fuer die Gottes- und Menschenliebe untrennbar verbunden sind. Auch moeglicherweise fuer Revolutionaere, deren Empfinden einzig und allein davon erregt wird, den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit zu schuetzen. Beides muss aber nicht zusammenkommen und man sollte auch nicht mit Gewalt versuchen, sie zusammenzubringen.

allgemeine Werte sind nicht besser als individuelle Werte und umgekehrt

In diesem Sinne hat Jean-Paul Sartre recht, wenn er die selbstbetruegerische Suche Kants nach Sicherheit beklagt, aber er liegt falsch, wenn er Proust als nutzlosen bourgeoisen Schwaechling bezeichnet, dessen Leben und Schriften beide irrelevant seien fuer die einzige Sache, die wirklich zaehlt, naemlich den Kampf gegen den Kapitalismus. Es trifft zu, dass Prousts Leben und Werk irrelevant fuer diesen Kampf sind. Aber das reicht nicht aus, um Proust zu verachten. Dies ist aehnlich unsinnig wie die Geringschaetzung Savanorolas fuer Kunstwerke, fuer die er nur die Bezeichnung ‚Nichtigkeiten‘ uebrig hatte. Diese Einfalt nach Art Sartres und Savanorolas strebt nach Reinheit des Herzens – man will nur die eine Sache -, die aber leicht verdirbt. Es ist der Versuch, sich selbst als Inkarnation von etwas Groesserem zu sehen (die Bewegung, die Vernunft, das Gute, das Heilige), anstatt die eigenen Grenzen zu akzeptieren. Unter anderem bedeutet dies zu akzeptieren, dass das, was fuer einen selbst gut sein mag, fuer die meisten anderen Menschen ohne Belang ist. Das ganz persoenliche Aequivalent eines Menschen zu meinen Orchideen ist stets zu fremd, zu eigenartig, als dass irgendjemand anders als dieser damit etwas anfangen kann. Aber das ist kein Grund sich dafuer zu schaemen, es herabzusetzen oder zu versuchen, es loszuwerden: das gilt fuer alle Wordsworthianischen Momente eines Menschen, fuer seine Liebe, seine Familie, sein Haustier, seine Lieblingsverse oder seinen wundersamen religioesen Glauben. Im Bereich der Allgemeingueltigkeit gibt es nichts Heiliges, das zu Folge haette, dass das, was geteilt werden kann, automatisch besser ist, als das, was nicht geteilt werden kann. Das, worin alle uebereinstimmen (das Allgemeingueltige) ist nicht automatisch dem ueberlegen, fuer das keine Uebereinstimmung erreicht werden kann (das Eigene).

Leiden anderer und eigene Neigungen auseinander halten

Aus dem Umstand, dass man Pflichten gegenueber anderen hat (sie nicht zu schlagen, sie nicht in Revolutionen gegen Tyrannen zu verwickeln, Hungrigen zu essen zu geben) folgt nicht zwangslaeufig, dass das, was man mit anderen teilt, bedeutungsvoller sei als irgendetwas anderes. Was wir miteinander teilen, wenn man diese Art von Pflichten wahrnimmt, hat nichts – so behaupte ich in Kontigenz – mit ‚Rationalitaet‘, ‚menschlicher Natur‘, ‚Vaeterlichkeit Gottes‘ oder ‚Wissen um ein moralisches Gesetz‘ zu tun, sondern nur damit, dass wir faehig sind, durch den Schmerz anderer berührt zu werden. Es gibt keinen einzigen Grund davon auszugehen, dass die eigene Empfaenglichkeit fuer diesen Schmerz und die jedem Menschen eigenen Neigungen in einem allumfassenden Kontext Platz finden, der aufzuzeigen in der Lage waere, wie jedes mit jedem zusammenhaengt. Es gibt also kurz gesagt kaum Gruende fuer die Art von Hoffnung – wie die vom ‚im Einklang halten‘ – die mich ans College fuehrte.

die Verantwortung für menschliches Leiden wird kulturell erworben

So viel dazu, wie ich zu meinen gegenwaertigen Sichten kam. Die meisten Menschen – wie ich schon vorher erwaehnte – finden diese abstossend. Mein Buch ueber Kontigenz hat zwar ein paar gute Kritiken bekommen, aber diese waren bei weitem in der Minderzahl gegenueber denjenigen, die das Buch fuer unbedeutend, irritierend und inkompetent hielten. Der Hauptkritikpunkt, der mir von Linken und von Rechten vorgehalten wird, ist im wesentlichen derselbe, den die Thomisten, die Straussianer und die Marxisten in den Dreissigern und Vierzigern des 20. Jahrhunderts gegen Dewey vorbrachten. Dewey meinte – wie ich heute – es gaebe ausser einem bestimmten kontigenten historischen Phaenomen – nichts Groesseres, nichts Dauerhafteres und nichts Verlaesslicheres, das hinter unserem Empfinden einer moralischen Verpflichtung fuer diejenigen stehe, die leiden. Die graduell abgestufte Bandbreite dieses Empfindens im Rahmen unterschiedlicher Bezuege, die Leiden ausloesen, richtet sich auf menschliches Leiden unabhängig von Familie, Stamm, Hautfarbe, Religion, Nation oder Intelligenz oder der eigenen Person. Diese Idee, meint Dewey, kann weder Wissenschaft, noch Religion oder Philosophie als wahr erweisen – wenigstens wenn ‚als wahr erweisen‘ bedeutet ‚faehig sein, es jedem klar zu machen, ungeachtet seines Hintergrundes‘. Sie kann nur den Menschen offensichtbar werden, fuer die es nicht zu spaet ist, um sich in unserer eigenen, einzigartigen, spaetbluehenden historisch bedingten Lebensform zu akkulturieren.

‚Wir sind besser dran, aber keine besseren Menschen als andere.‘

Entsprechend dieser Idee entwirft Dewey ein Bild menschlicher Wesen als Kinder ihrer Zeit an einem bestimmten Ort, ohne dass deren Formbarkeit signifikante metaphysische oder biologische Grenzen hat. Gemeint ist, dass unser Empfinden fuer moralische Verpflichtung eher eine Folge von Gewoehnung sei als Folge eigener Entscheidung. Der automatische Impuls dieser Entscheidung (in natuerlicher und ethischer Hinsicht) wird von einer Art Momentaufnahme ausgelöst, die alles – abgesehen von menschlichen Beduerfnissen und Wuenschen – festhält, um einen für uns stimmigen Eindruck entstehen zu lassen. ‚Die Spur der menschlichen Schlange ist ueberall‘ wie William James dies darlegte. ‚Genauer gesagt, unser Gewissen und unser aesthetischer Geschmack sind gleichermassen Produkte der kulturellen Umgebung, in der wir aufwachsen. Wir anstaendigen, liberalen menschlichen Typen (Vertreter der moralischen Gemeinschaft zu der meine Kritiker und ich gehoeren) sind lediglich besser dran, als die Rabauken, gegen die wir kaempfen, aber keine besseren Menschen.‘

Es gibt Sichtweisen auf Menschliches, die sich gegenseitig ausschließen.

Diese Sicht wird oft veraechtlichmachend als Indiz fuer ‚Kulturrelatvismus‘ angefuehrt. Relativistisch trifft aber nicht zu, wenn damit gemeint ist, dass jede moralische Sicht so gut wie jede andere ist. Unsere moralische Sicht ist, das glaube ich fest, viel besser als irgendeine konkurrierende Sicht. Trotzdem gibt es eine Menge Menschen, die man niemals dazu wird bekehren koennen. Faelschlicherweise wird einerseits gesagt, es gaebe zwischen uns und den Nazis nichts zu entscheiden. Andererseits ist es korrekt zu sagen, dass es nichts gleich Gültiges, keine gemeinsame Basis gibt, von dem aus ein erfahrener Naziphilosoph und ich etwas aufbauen koennten, um so unsere Differenzen auszuraeumen. Der Nazi und ich werden ueber die entscheidenden Fragen zwischen schlagenden und Zustimmung heischenden Argumenten wechseln und uns dabei um uns selber drehn.

Objektivitaet ist das aktuell erreichte Hoechstmaß intersubjektiver Übereinstimmung

Sokrates und Platon vermuteten, wenn wir es ernsthaft versuchten, sollten wir Ueberzeugungen finden, die jeder intuitiv fuer plausibel halten kann. Unter diesen wiederum wuerden sich moralische Ueberzeugungen finden, deren Implikationen, wenn sie klar eingesehen werden, uns sowohl menschlich wertvoller als auch sachkundig machten. Fuer Philosophen wie Allan Bloom (einem Straussanhaenger) und Terry Eagleton (einem Marxisten) muss es solche Ueberzeugungen geben – sie sind feststehende Dreh- und Angelpunkte, die die Antwort auf die Frage bestimmen: Welche alternative Moral oder Politik hat objektive Gueltigkeit? Fuer Pragmatisten vom Schlage Deweys wie z.B. fuer mich, reichen Geschichte und Anthropologie aus, um zu zeigen, dass es keine feststehenden Dreh- und Angelpunkte gibt und dass die Suche nach Objektivitaet darin besteht, so viel intersubjektive Uebereinstimmung wie nur moeglich zu erzielen.

was mache ich in der Philosophie?

Seit der Zeit, da ich aufs College ging, drehen sich die philosophischen Debatten in fast immer gleicher Weise um die Frage, ob Objektivitaet mehr ist als Intersubjektivitaet – in der Sache gab es keine Veraenderung seit Hegel ins Seminar ging. Heutzutage reden wir Philosophen ueber ‚moralische Sprache‘ anstatt von ‚moralischer Erfahrung‘ und ueber ‚kontextualistische Theorien der Referenz‘ und nicht ueber die ‚Relation zwischen Subjekt und Objekt‘. Aber das ist nichts weiter als ein Kratzen an der Oberflaeche. Meine Gruende fuer meine Abkehr von anti-deweyischen Sichten, welche ich in Chicago absorbierte, sind weitgehend die gleichen Gruende, die Dewey hatte, als er sich vom evangelischen Christentum und vom neohegelianischen Pantheismus – den er in seinen Zwanzigern angenommen hatte – abwandte. Sie entsprechen auch eher den Gruenden, die Hegel von Kant Abstand nehmen liessen und ihn zu der Entscheidung brachten, dass Gott und das Moralische Gesetz sich dem zeitgemaessen und geschichtlich gewachsenen Rahmen anpassen muessen, um glaubhaft zu sein. Ich meine nicht, dass ich heute von den Debatten ueber die Notwendigkeit von ‚Absolutem‘ mehr verstehe als mit 20 Jahren – trotz all der Buecher, die ich gelesen habe und trotz der Argumente, die ich habe aushalten muessen in den vierzig Jahren, die dazwischen liegen. In all den Jahren des Lesens und Begruendens tat ich nichts weiter, als – zunehmend detaillierter und vor einer Vielfalt wechselnder Zuhoererschaften – meine ernuechternden Erfahrungen mit Platon zu erlaeutern – auch meine Ueberzeugung, dass Philosophie im Umgang mit Nazis und anderen Bedrohungen hilflos war.

Sorge um die Vereinigten Staaten

Im Moment werden in den Vereinigten Staaten zwei Kulturkriege gefuehrt. Den ersten beschrieb mein Kollege James Davison Hunter detailliert in seinem thematisch umfassenden und informativen Buch Culture Wars: The Struggle to Define America. Dieser Krieg – zwischen den Menschen, die Hunter ‚Progressivisten‘ und denen, die er ‚Orthodoxe‘ nennt – ist wichtig. Er wird darueber entscheiden, ob unser Land wie bisher entlang des Weges weitermachen wird, der durch die ‚Bill of Rights‘, die ‚Verfassungsaenderungen zur Rekonstruktion‘ der Vereinigten Staaten [im Anschluss an die Buergerkriege wurden Freiheit und Gleichheit aller Amerikaner in die Verfassung aufgenommen], dem Bau von ‚Land-Grant Colleges‘ [College-Ausbildung fuer Landwirte, Militaers, Ingenieure], Frauenwahlrecht, dem ‚New Deal‘ [Wirtschafts- und Sozialreformen in der Aera Roosevelt 1933-41], Brown versus Erziehungsministerium (1954 Ende der legalen Rassentrennung in den Oeffentlichen Schulen), dem Bau der ‚Gemeinde-Colleges‘, Lyndon Johnsons ‚Buergerrechtsgesetze‘, der Frauenbewegung, der Lesben- und Schwulenbewegung gekennzeichnet ist. Diesen Weg weiterzugehen, koennte bedeuten, Amerika arbeitete daran weiter, ein Beispiel wachsender Toleranz und immer groesser werdender Gleichberechtigung zu geben. Moeglicherweise aber konnte dieser Weg nur deshalb fortgesetzt werden, weil das amerikanische Durchschnittseinkommen kontinuierlich stieg. Dann koennte das Jahr 1973 der Anfang vom Ende sein: naemlich das Ende wirtschaftlicher Hoffnungen und das Ende der politischen Uebereinstimmung, die zur Zeit des ‚New Deal‘ [waehrend der ‚Depression‘] aufkam. Die Zukunft Amerikas koennte dann ziemlich genau einer Serie von zunehmend grellen und zahlenmaessig steigenden, erfolgreichen Variationen von Vorfaellen nach ‚Willi-Horton-Art‘ [so etwas wie ‚entwürdigende Schlammschlachten‘] gleichen. Ein weiteres zunehmend plausibles Szenario koennte die Gefahr naziaehnlicher Verhaeltnisse sein, die Sinclair Lewis in It Can’t Happen Here darstellt. Anders als Hunter, fuehle ich kein Beduerfnis einen gerecht ausgewogenen Standpunkt gegenueber den beiden Seiten des Kulturkrieges der ersten Art einzunehmen. Fuer mich sind die ‚Orthodoxen‘ (Menschen, die meinen, es trage zum Erhalt traditioneller Familienwerte bei, Schwule und Lesben aus der Armee zu jagen) die gleichen ehrenwerten, anstaendigen, konventionellen, unheilschwangeren Menschen, die 1933 Hitler waehlten. Die ‚Progessivisten‘ sind fuer mich diejenigen, die das einzigartige Amerika so definieren, wie es fuer mich wichtig ist.

Errungenschaften schätzen und die Zukunft vorsichtig taxieren

Der zweite Kulturkrieg wird in Magazinen wie Critical Inquiry und Salmagundi ausgetragen. Beides sind Magazine mit hoher Subskribtionsrate und geringer Verbreitung. Er tobt zwischen denen, die meinen der Lebensnerv der modernen liberalen Gesellschaft sei beschaedigt (Menschen, die geschickterweise unterschiedslos als ‚Postmodernisten‘ zusammengefasst werden) und standardmaessig linksorientierten demokratischen Professoren wie mir, Menschen, die glauben, dass die Technologie und die Institutionen unserer Gesellschaft mit Glueck so zusammenarbeiten koennen, dass in ihr die Gleichheit zu – und das Leiden abnimmt. Dieser Krieg ist nicht sehr wichtig. Konservativen Kolumnunisten zum Trotz, die so tun, als ob sie mit Besorgnis eine riesige Verschwoerung (von Seiten der Postmodernisten und der Pragmatisten) beobachteten, die die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften politisiere und die Jugend verderbe, handelt es sich in Wirklichkeit um einen sehr kleinen Disput innerhalb der Reihen derjenigen, die Hunter als ‚Progressivisten‘ bezeichnet. Leute vom postmodernen Fluegel des Disputes teilen gern die Auffassung Noam Chomskys, dass die Vereinigten Staaten von einer korrupten Elite in Trab gehalten werden, die sich dabei auf Kosten der Verelendung der Dritten Welt bereichern moechte. Aus dieser Perspektive ist die Gefahr, dass unser Land in den Faschismus schlittert nicht groesser als bei einem Land, das schon seit laengerem quasi faschistisch gewesen ist. Daran wird sich erst etwas aendern – so meinen diese Leute mit gleich bleibender Regelmäßigkeit – wenn wir ‚Humanismus, ‚liberalen Individualismus‘ und ‚Technologismus‘ aufgeben. Leute, so wie ich, finden dass mit diesen ‚-ismen‘ alles in Ordnung ist, als auch mit dem politischen und moralischen Erbe der Aufklaerung, als auch mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner fuer Mill und Marx, Trotzki und Whitmann, William James und Vaclav Havel. Wir raeumen mit gleich bleibender Regelmäßigkeiten ein, dass Amerika jederzeit in den Faschismus abrutschen kann, aber wir sind stolz – Deweyans sind sentimentale Patrioten – auf Amerikas Vergangenheit, doch vorsichtig hoffnungsvoll hinsichtlich seiner Zukunft.

‚allem sozialistisch Guten treu ergeben‘

Unter dem Eindruck der Geschichte der Verstaatlichung von Unternehmen und zentralistischer Wirtschaftsplanung in Mittel- und Osteuropa haben die meisten Leute auf meiner Seite dieses zweiten, sehr kleinen, teuer gehandelten Kulturkrieges aufgehoert, auf den Sozialismus zu setzen. Wir sind bereit zuzugeben, dass der Wohlfahrtsstaatskapitalismus das Beste ist, worauf wir hoffen koennen. Die meisten von uns, die im Trotzkismus gross geworden sind, fuehlen sich auch gezwungen zuzugeben, dass Lenin und Trotzki mehr Schaden als Gutes angerichtet haben und dass Kerensky in den vergangenen 70 Jahren zu unrecht an den Pranger gestellt worden ist. Doch allem, was in der sozialistischen Bewegung gut war, sind wir weiterhin treu ergeben. Die auf der anderen Seite jedoch bestehen darauf, dass irgendeine Art Totalrevolution noetig sei, um etwas zu aendern. Unbeirrt moechten sich die Postmodernisten, die sich selbst als Postmarxisten betrachten, die Art von Gesinnungsreinheit bewahren, deren Verlust Lenin fuerchtete, wenn er zu viel Beethoven hoerte.

politische Sichten sagen nichts über den Wert philosophischer und umgekehrt

Ich misstraue der ‚orthodoxen‘ Seite im wichtigen Krieg und der ‚postmodernen‘ im unwichtigen, weil ich glaube, dass die ‚Postmodernen‘ philosophisch recht haben, obwohl sie politisch krude Ideen vertreten, und dass die ‚Orthodoxen‘ philosophisch sowohl unrecht haben, als auch politisch gefaehrlich sind. Im Unterschied zu den Orthodoxen und zu den Postmodernen meine ich, dass man nicht viel ueber den Wert der Auffassungen eines Philosophen ueber Themen wie Wahrheit, Objektivitaet und der Moeglichkeit des ‚im Einklang halten‘ aussagen kann, indem man seine politischen Neigungen aufdeckt oder deren Belanglosigkeit feststellt. So meine ich, es spricht nicht fuer die pragmatische Sicht Deweys, dass er ein gluehender Sozialdemokrat war; es spricht auch nicht gegen Heideggers Kritik an Platons Idee der Objektvitaet, dass er ein Nazi war; gleichfalls spricht es nicht gegen die Sicht Derridas der linguistischen Bedeutung, dass sein einflussreichster amerikanischer Verbuendeter Paul de Man – als er jung war – ein paar antisemitische Artikel schrieb. Der Gedanke, es koenne der Wert der philosophischen Sichten eines Autors sich daraus ergeben, welchen politischen Gebrauchswert sie für ihn haben, scheint mir eine Version der unbrauchbaren platonisch-straussianischen Idee zu sein, dass Gerechtigkeit erst dann moeglich ist, wenn Philosophen entweder Koenige oder Koenige Philosophen geworden sind.

Folgen eines irrtümlich angenommenen Zusammenhangs

Dennoch bestehen Orthodoxe wie Postmoderne auf einer engen Verbindung zwischen politischen Sichten von Leuten und ihren Sichten ueber umfassende theoretische (theologische, metaphysische, epistemologische, metaphilosophische) Themen. Einige Postmodernisten, die meinen Enthusiasmus fuer Derrida zum Anlass nahmen, davon auszugehen, dass ich politisch auf ihrer Seite stehen muesste, entschieden – nachdem sie entdeckt hatten, dass meine politischen Auffassungen eher denen von Hubert Humphrey nahe standen – dass ich unglaubwuerdig sei. Die Orthodoxen neigen zu der Meinung, dass Leute, die – so wie die Postmodernen und ich – weder an Gott noch an irgendeinen passablen Ersatz glauben, davon ausgehen muessen, dass alles erlaubt ist, dass jeder tun und lassen kann, was ihm gefaellt. Also nennen sie uns entweder widerspruechlich oder selbstbetruegerisch, wenn wir ihnen unsere moralischen oder politischen Auffassungen unterbreiten.

‚philosophieren‘ und ‚handeln‘ verbinden sich spontan und situativ

Ich benutze diese tiefe Einmuetigkeit zwischen meinen Kritikern dazu, um zu zeigen, dass die meisten Leute – sogar eine Menge der angeblich durch nichts gebundenen Postmodernisten – sich nach etwas sehnen, was ich anstrebte als ich 15 war: einen Weg um ‚die eigene Welt und Gerechtigkeit im Einklang zu halten‘. Genauer gesagt, sie wollen ihren Sinn fuer moralische und politische Verantwortung durch den Zugriff auf die hoechsten Determinanden unseres Schicksals vereinigen koennen. Liebe, Macht und Gerechtigkeit muessen tief in der Natur der Dinge oder in der menschlichen Seele oder in der Struktur der Sprache oder sonstwo zusammenkommen. Sie streben nach einer Art Garantie dafuer, dass ihr intellektuelles Begreifen und die aussergewoehnlichen ekstatischen Momente, die dieses Begreifen manchmal liefert, von irgendeiner Relevanz fuer ihre moralischen Ueberzeugungen sind. Tugend und Wissen – so meinen sie unbeirrt – seien irgendwie verknuepft: in philosophischen Themen recht zu haben, fuehre in der Folge zu richtigen Handlungen. Ich denke dieser Zusammenhang entsteht in unvorhersehbaren Situationen und er kann nicht herbeigeführt werden.

‚Ideen haben Folgen.‘

Ich moechte behaupten, dass Philosophie dann und wann auch gesellschaftspolitisch nuetzlich sein kann. Ohne Platon haetten es die Christen schwerer gehabt, die Idee zu verbreiten, dass Gott von uns vor allem verlangt, unsere Brueder zu lieben. Ohne Kant waere es dem 19. Jahrhundert schwerer gefallen, christliche Ethik mit Darwins Geschichte ueber die menschliche Abstammung in Einklang zu bringen. Ohne Darwin waere es fuer Whitman und Dewey schwerer gewesen, die Amerikaner von ihrem Glauben abzubringen, sie seien Gottes auserwaehltes Volk und ihnen das Startzeichen zu geben, auf eigenen Beinen zu stehen. Ohne Dewey und Sidney Hook, haetten sich in den Dreissigern des 20. Jahrhunderts die intellektuellen Amerikaner am aeussersten linken Rand genauso von den Marxisten taeuschen lassen, wie ihre Genossen in Frankreich und Lateinamerika. Ideen wirken, ja sie haben Folgen.

Philosophen können helfen, die ‚eigene Zeit im Denken zu tragen‘

Doch dies bedeutet nicht, wir Philosophen, wir Fachleute fuer Ideen, haetten eine Schluesselposition inne. Wir sind nicht dazu da, um Prinzipien oder Begruendungen oder tiefgehende theoretische Diagnosen oder umfaengliche Visionen bereitzustellen. Werde ich gefragt (leider werde ich oft gefragt), was ich fuer den ‚Auftrag‘ oder fuer die ‚Aufgabe‘ der zeitgenoessischen Philosophie halte, muss ich nach Worten suchen. Ich stottere herum und sage bestenfalls so etwas wie, dass wir Philosophieprofessoren Leute sind, die eine bestimmte Vertrautheit mit einer bestimmten intellektuellen Tradition haben, so wie Chemiker eine bestimmte Vertrautheit damit haben, was passiert, wenn man unterschiedliche Substanzen miteinander vermischt. Wir koennen auf der Basis unserer Kenntnisse der Ergebnisse frueherer Experimente unseren Rat anbieten im Hinblick darauf, was passieren könnte, wenn man versucht, bestimmte Ideen zu kombinieren oder voneinander zu trennen. Waehrend wir das tun, sind wir in der Lage jemanden dabei zu unterstützen, die ‚eigene Zeit im Denken zu tragen‘. Aber wir sind nicht Leute, denen es gelingt, jemandem zu bestaetigen, dass die Dinge, die er von ganzem Herzen liebt, von zentraler Bedeutung fuer die Struktur des Universums sind, oder dass sein Sinn fuer moralische Verantwortung ‚rational und objektiv‘ sei, d.h. mehr als bloss das Ergebnis dessen, wie er aufgewachsen ist.

Empfinden fuer Begrenztheit und Toleranz

Fuer Bestaetigungen dieser Art gibt es – wie C.S.Peirce es formulierte – ‚an jeder Ecke philosophische Ramschlaeden‘. Die haben ihren Preis. Um den zu zahlen, muss man der Geistesgeschichte den Ruecken kehren und sich dem zuwenden, was Milan Kundera ‚den faszinierenden, erfindungsreichen Raum‘ nennt, ‚wo keiner die Wahrheit besitzt und jeder das Recht auf Verstaendnis geniesst … die Weisheit des Romans.‘ Man riskiert in solchen Läden, das Empfinden fuer Begrenztheit und Toleranz zu verlieren, das sich entwickelt, wenn man feststellt, wie viele umfaengliche Visionen es bereits gegeben hat und wie wenig hilfreich Argumente sind, um zwischen ihnen auszuwaehlen. Trotz meiner ziemlich fruehen Ernuechterung mit dem Platonismus, bin ich sehr froh, alle diese Jahre damit zugebracht zu haben, philosophische Buecher zu lesen. Denn ich habe dabei etwas gelernt, das mir auch heute noch sehr zentral zu sein scheint: naemlich der denkstolzen Abgehobenheit zu misstrauen, die mich urspruenglich dazu gebracht hat, diese Buecher zu lesen. Ohne die Lektuere all dieser Buecher waere ich vielleicht nicht in der Lage gewesen, die Suche nach dem zu beenden, was Derrida ‚ eine vollkommene Präsens jenseits der Reichweite des Spiels‘ nennt, und nach einer perfekten, sich selber erklärenden, sich selber genügenden, alles umfassenden Vision.

Solidarität ist das Wichtigste

Heute bin ich ziemlich sicher, dass es eine schlechte Idee ist, nach einer derartigen Präsenz  und nach einer derartigen Vision zu suchen. Man steht vor problematischen Folgen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, die eigenen Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen. Dieser Erfolg naemlich koennte einen dazu verleiten, anzunehmen, man habe etwas gefunden, was verlaesslicher sei als Toleranz und menschlicher Anstand unserer Mitmenschen. In der demokratischen Gemeinschaft, von der Dewey traeumt, stellt sich niemand Derartiges vor. In dieser Gemeinschaft haelt jeder die menschliche Solidaritaet fuer das, was zaehlt und nicht das Wissen ueber etwas bloss Nichtmenschliches. Die aktuell vorhandene Annaeherung an eine derart vollstaendige Demokratie, an die vollkommen saekulare Gemeinschaft scheint mir zur Zeit die groesste Errungenschaft unserer Spezies zu sein. Im Vergleich dazu sind sogar die Buecher von Hegel und Proust bloss optional, Orchideenaehnliches erst recht.

4 Kommentare zu “Wie Rorty zur Philosophie kam.

  1. Pingback: Rorty: ‘philosophieren’, um Raeume zu oeffnen « Rorty's Anregungen

  2. Pingback: Rorty ‘offen philosophieren’ « Rorty's Anregungen

  3. Pingback: Der Fall Richard Rorty « Rorty's Anregungen

  4. Pingback: Von den Schwierigkeiten Selbstverstaendliches und Irrtuemliches zusammen zu sehen « Rorty's Anregungen

Hinterlasse einen Kommentar