Rorty, Kant und ich

Das was ist, hängt ab von dem, was viele glauben, dass es so sei.

Das kulturell wirksame Konzept einer Philosophie, „… das als ‚Gerichtshof einer reinen Vernunft‘ verfasst wurde, … verdanken wir vor allem Kant, …“ der wiederum in der Tradition Cartesianischer und Lockescher Philosophie stand. (Vgl. Richard Rorty: Philosophy and the mirror of nature. Princeton University Press 2009, S.4.)

Als ich dies vor wenigen Jahren zum ersten Mal las, stimmte ich spontan zu. Rorty‘ s Resuemee schien das meine zu treffen, dass sich mir in Jahrzehnten meines philosophischen Selberlernens nahe gelegt hatte. Zum ersten Mal war mir 10 Jahre vor meiner ersten gruendlichen Rorty-Lektuere deutlich ein verwandter Gedanke bei eigenen Transkriptionen von Texten des Augustin von Thagaste gekommen. Ich hatte mich damals gefragt, wieso der Diskurs zwischen Augustin und seinen Zeitgenossen niemals grundlegende Annahmen bzw. Behauptungen – wie z.B. die Dichotomie von Geist-Seele und Koerper – thematisiert hatte. Vermutlich deshalb, so ergab es sich mir spontan, weil alle seine Gespraechspartner davon ausgingen, dass es so ist. Die Rede Rorty’s vom therapeutischen Wert der Beschaeftigung mit der Philosophiegeschichte hatte sich fuer mich so bestaetigt.  Augustin und seine Zeitgenossen teilten die gemeinsame Auffassung, dass der Mensch sowohl aus Koerper als auch aus Geist bestehe. Ohne diese gemeinsame Auffassung waere ein Diskurs in der Art und Weise nicht gelungen, wie sie u.a. der umfangreiche Briefwechsel des Augustin von Thagaste dokumentiert. Damals trauerte ich diesen Zeiten nach, weil ich in meinen Diskursen erlebte, dass es keinen derartigen Konsens mehr gab – ausser ich blieb unter meinesgleichen, was ich aber nicht wollte. Ich hatte in meinem Alltag mit Menschen unterschiedlichster Auffassungen zu tun und hatte den Wunsch zu kapieren, was sie zu ihren jeweils anderen Auffassungen veranlasste.

Grenzen des Selberdenkens bei Kant

Kant galt zur Zeit meines Studiums als Philosoph, der Selberdenken propagierte. Wie ich spaeter nach Jahren meiner autodidaktischen Kantlektuere resuemierte, konnte er Selberdenken nur im Rahmen bestimmter Parameter denken, die mir im Laufe meines alltaeglichen Handelns fragwuerdig geworden waren. Unter Kantianern – Menschen mit grundsaetzlich Kantischen Auffassungen – wurden meine Fragen nach dem, was sie so selbstverstaendlich mit Vernunft, Verstand und Pflicht bezeichneten, abgewehrt. Mir schien, dass sich fuer Rorty aehnliche Fragen gestellt hatten. Ich folgte seinen Anregungen zu denen sich die von Rolf Reinhold gesellten und wurde bei Kant fuendig. In einem Vortrag in einer universitaeren, interdisziplinaeren AG stellte ich mein Resuemee vor: Ich erlaeuterte, dass Kants ‚Apriori‘ ein ‚Erklaerungsmodell‘ sei, das den Nachweis der von Kant behaupteten ‚apriorischen Anschauungen und Begriffe‘ zwar behauptet, aber letztlich verfehlte. Daher taugten letztere aus meiner Sicht nicht als Anleitung eines interdisziplinaeren Diskurses der Gegenwart. Die Teilnehmer waren ueberwiegend Nichtphilosophen, die aber das kantische Konzept der reinen Vernunft enkulturell erworben und fuer unser Thema ‚Neurophilosophie‘ als irgendwie brauchbar betrachteten.

Textstellen aus der Kritik der reinen Vernunft – wie folgende – benutzte ich damals, um meine Schlussfolgerungen kapierbar zu machen: „Ich verstehe unter einer transzendentalen Eroerterung die Erklaerung eines Begriffs, als eines Prinzips, woraus die Moeglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird erfordert, 1) dass wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfliessen, 2) dass diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklaerungsart dieses Begriffs moeglich sind.“ (ebd.§3)

Hier wird m.E. ein spezifisch apriorisches Erklaerungsverhalten deutlich: Eines bedingt das andere und es entsteht ein geschlossener Kreis (homöostatisches Prinzip), der nur schwer zu knacken ist und zusaetzlich durch Wortschatz und verzwickte grammatikalische Konstruktionen unklar wirkt. Zirkelschluesse hatte ich frueher selber vollzogen, ohne sie zu bemerken. Hinweise anderer darauf haben mich immer mal wieder nachdenklich gemacht. Mehr duerfte mir mit meinem Vortrag damals auch nicht gelungen sein. Im Gefolge der These, dass alles, was jemand sagt, Menschen perturbiert mit der moeglichen Folge einer Veraenderung, habe ich die Abwehr meiner Thesen zu Kant als verstaendliche Reaktion akzeptiert. Ich vermute, dass auch Rorty die Kritik an seinen Forschungsergebnissen unter aehnlichen Aspekten betrachtet hat.

Die Physis ist marginal – Vernunft und Verstand sind dominant

Kant, so erlaeuterte ich damals weiter, schien der Auffassung zu sein, dass er mit seiner‘ transzendentalen Aesthetik‘ etwas ‚Objektives‘ aufzuzeigen in der Lage sei, das wissenschaftlichen Aussagen das Praedikat  ‚Gewissheit‘ verleihen koenne. Er begann in §1 seine „Kritik der reinen Vernunft“ mit einer knappen Beschreibung darueber, wie er zur Erkenntnis der ‚reinen sinnlichen Anschauungsform‘ des Raumes komme.

„In der transzendentalen Aesthetik … werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, dass wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung uebrig bleibe.“

Eine derartige Akrobatik konnte m.E. nur auf dem Feld Lockescher Erkenntnistheorie gedeihen. Sie setzte nach meinen eigenen Untersuchungen bei Vertretern der Erkenntnistheorie die dichotomische Auffassung Koerper-Geist voraus und sie ging weiter davon aus, dass dem menschlichen Geist alles moeglich sei umzusetzen, was er sich ausdenkt. Mir kam beim Lesen die Kritik des Lukrez an den Agnostikern in den Sinn, die er als Leute bezeichnet, die versuchten in der ‚eigenen Fussspur gehend gleichzeitig auf dem Kopf zu stehen‘. Mir war es vergleichsweise bisher unmoeglich gewesen, das zu leisten, was Kant hier als Weg zur „Erkenntnis des Apriorischen“ vorgab. Kant selbst schien sich der Problematik dieses Erkennens moeglicherweise bewusst gewesen zu sein, denn er erklaerte gleich auf der ersten Seite seiner „Kritik der reinen Vernunft“,  dass man um das Apriorische ‚absondern‘ zu koennen, ‚lange Uebung‘ brauche.

‚herausfinden‘ statt ‚beweisen‘

Dies kann moeglicherweise genuegen, um zu erlaeutern, wieso die Zustimmung zu Rorty’s Schlussfolgerungen, fuer mich in jüngster Zeit naeher lag, als die Abwehr seiner Ergebnisse. In meinen metaphysischen Zeiten hatte ich es vermieden mich mit Rorty zu beschaeftigen. Ich habe inzwischen herausgefunden, dass ‚philosophieren‘ und ‚handeln‘ besser funktionieren, wenn man Kantische Parameter verlaesst und sich auf ‚hingehen zu den Dingen‘ (Rolf Reinhold) und ‚verzichten‘ auf weitreichende Behauptungen‘ wie „Geist“ (Richard Rorty) einlaesst. Dieses ‚besser funktionieren‘ laesst sich nicht „beweisen“ – eine von zahlreichen Selbstverständlichkeiten unserer Kultur – dies kann jeder nur fuer sich selber herausfinden, wenn er dies moechte.

Es gilt auch: Die bessere Qualitaet von Rorty’s Idee einer ‚edifying philosophy‘ laesst sich genauso wenig „beweisen“, wie es Kant gelungen ist, seine ‚Aprioritaeten“ – eine hegelsche Bezeichnung – zu beweisen. Kant ging ganz menschlich selbstverstaendlich und gewohnheitsmaessig von dem aus, was er selber erlebt, erworben und in diesem Rahmen vorgefunden hatte: Bestimmte kulturelle Denk- und Handlungsgewohnheiten, die ihm wertvoll geworden waren und die er verteidigte, nachdem der Schotte Hume ihn aus seinem ‚dogmatischen Schlummer‘ geweckt hatte. Rorty wertete philosophierend auch vor dem Hintergrund ganz bestimmter kultureller Denk- und Handlungsgewohnheiten seine eigenen Forschungsergebnisse aus. Was Rorty von Kant ganz deutlich unterschied, war seine Entscheidung für eine gemeinschaftsstiftende Pragmatik der Wissenschaften und des Miteinanders  gegen die Gepflogenheit, weitere theoretische Behauptungen über bereits theoretisch Behauptetes zu deren Kriterien zu erheben.

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