Wespennester voller Missverstaendnisse …

… oeffneten sich vor der Idee Rortys, Philosophen sollten sich der ‚heilenden Wirkung philosophiegeschichtlicher Zusammenhaenge‘ aussetzen. Rortys Ergebnis wirkte verstoerend bis erschreckend: Geist sei moeglicherweise nichts anderes – so gab Rorty zu bedenken -, als irrtuemlich interpretierende Ueberlegungen, die sich an Texten verstorbener Philosophen ergeben hatten.

Keine Wissenschaft – auszer der Theologie – ist derart mit der eigenen Geschichte beschaeftigt, wie die Philosophie. Vergleichbar der Theologie ist sie kontinuierlich dabei ihre Gegenstaende mit historischen Problemen zu fuellen, zu deren Klaerung, die Gegenwart beizutragen habe. Wie aber sollen Probleme der Vergangenheit mit Mitteln der Gegenwart geloest werden koennen? Und wie kann angesichts dieses merkwuerdigen Forschungsansatzes ‚philosophieren‘ fuer die Gegenwart produktiv werden?

Wer von universitaer-philosophischer Verbildung frei ist, wird merken, dass hier ziemlich schraeg interpretiert wird. Rorty hat dieses schraege Daherkommen selten klar benannt. Gegenueber seinem Freund Habermas aber war er da wenig zimperlich und nannte ihn einen „Sklaven“ traditioneller Vorstellungen. Dessen rationalistische Handlungstheorie charakterisierte er als ein veraltetes Konzept der metaphysischen Philosophie. Der Freundschaft zwischen den beiden Maennern haben diese klaren Worte keinen Abbruch getan, aber der Schrecken vor dem, was einem passieren konnte, wenn man Rorty’s Vorschlag folgte, vergroeszerte sich damit nicht nur fuer deutsche Philosophen.

Traditionsgepraegte Philosophen, die sich als ‚richtige‘ Philosophen verstehen, bestreiten, Metaphysik zu betreiben. Das liegt vor allem daran, dass sie zwar ihre Nomenklatura veraendert haben, nicht aber die Sache und auch nicht ihre Methode. Noch immer sind sie – meist mit Kant im Ruecken – einer irgendwie gearteten Objektivitaet auf der Spur und noch immer rechtfertigen sie ihre Ueberzeugungen mit Ursachen, die hinreichende bzw. zureichende Gruende liefern. Rorty beteiligte sich an diesen Diskursen, indem er Argumenationsketten seiner Kollegen beschrieb, darin herumstocherte und auf Aspekte hinwies, die unbeachtet liegen geblieben waren. Als Skeptiker liesz er sich nicht vom Vordergruendigen taeuschen, sondern benannte das, was er las, hoerte, sah, dachte und empfand. [1]

Eine derartige skeptische Klarsichtigkeit ist unter den traditionsgepraegten Philosophen weder sehr verbreitet noch wird sie geschaetzt. Rorty war u. a. aufgefallen, dass kleine Woertchen wie ‚wahr‘ bzw. ‚real‘ als Wahrheitskriterium herkoemmlicher Art benutzt wurden. Die schaedliche Wirkung von Ueberzeugungen, die auf diese Weise unmerklich ‚Wahrheit‘ beanspruchen, wurde und wird nicht bemerkt. Entsprechende Aeuszerungen von Rorty wurden uebersehen bzw. sind die ‚blinden Flecken‘ vieler Philosophen: „Sobald wir aufhoeren, wahre Ueberzeugungen als Repraesentationen der Realitaet aufzufassen und sie statt dessen … als Handlungsgewohnheiten begreifen, dann … koennen wir mit dem Wort ‚real‘ nichts mehr anfangen, es sei denn, wir verwenden es als einen uniformativen, nichts erklaerenden Ehrentitel, als einen Klaps auf die Schulter derjenigen Muster, auf die wir uns nunmehr verlassen.“ [2]

Es ist nachvollziehbar, dass traditionsgepraegte Philosophen nicht ins Leere laufen moechten, deshalb bestaetigen sie sich gegenseitig sowohl ihre Metaphysikfreiheit, wie auch die Gewichtigkeit ihrer philosophischen Ueberlegungen. Rorty nannte sie u. a. „Raetselfreunde“, weil sie das „Unsagbare lieben“ und Metaphern fuer „Werkzeuge des Denkens“ halten. Dabei braucht die Philosophie aber ’neue Anschauungen‘ ohne transzendente Sackgassen der Metaphysik, weil die alten nicht weiterfuehren. Dabei wird der Schrecken ohne einen archimedischen Angelpunkt auskommen zu muessen, letztlich marginal bleiben, weil er den Anfang fuer neue Moeglichkeiten des ‚philosophieren‘ markiert. „Wir Holisten behaupten, dass weder Intuition noch ambitioniertes Streben einen archimedischen Punkt gewaehrleisten.“ [3]

 

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[1] Vgl. dazu z. B. seine Einleitung zu Richard Rorty und Joachim Schulte: Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt/M. 2008, 6. Auflage, S. 7-24.

[2] Ebd. S. 171.

[3] Ebd. S. 176-178.

therapeutisch gesinnter Philosoph

Bei den Auseinandersetzungen unter Historikern geht es um Fragen, die eine ‚kontinuierliche Entwicklung‘ bestimmter Probleme – z.B. Erkenntnistheorie und Metaphysik – von der Antike bis heute betreffen. „Diejenigen unter uns, die Zweifel an der kontinuierlichen Entwicklung … hegen, bemuehen sich um die Erkundung einer Abfolge weitgehend diskontinuierlicher, aber stets ‚philosophisch‘ genannter Problemstellungen, die durch jeweils verschiedene Krisen der Kultur hervorgebracht wurden. Dabei werden diese Krisen als so verschiedenartig aufgefasst, dass es wenig Sinn hat, Locke als Nachfahren des Aristoteles oder als Vorlaeufer Heideggers zu sehen.“ [1]

Ich beschaeftige mich zuerst mit Rorty’s Zurueckhaltung gegenueber der Idee, es gaebe so etwas wie eine kontinuierliche Entwicklung von Problemstellungen in der Geschichte der Philosophie. Manche kennen diese Idee vor allem als die Hegels, der in der Geschichte der Philosophie das Wirken ‚des sich dialektisch entfaltenden Geist‘ sehen zu glaubt. Dies kann in seinen ‚Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie‘ nachgelesen werden. Doch auch anders benannte Motoren der Geschichte der Philosophie – wie die der Vernunft, des Bewusstseins – gibt es und hat es gegeben. In nichtphilosophischen Geschichtswissenschaften ist auch Kontinuitaet von Entwicklungen ein vielfaeltig gebrauchtes Instrument. Rorty weist darauf hin, dass heute in der Philosophie die Annahme einer ‚kontinuierlichen Entwicklung‘ mit Skepsis betrachtet wird, die er teile. Er kritisiert dazu u. a. dass die Idee einer ‚kontinuierlichen Entwicklung‘ sich ganz selbstverstaendlich und unreflektiert damit verbindet, dass – wie Jonathan Rée formulierte – „historisches Bewusstsein … von kategorialer Wichtigkeit fuer den Philosophen“ [2] sei. Eine Auffassung die auch unter deutschen Philosophen der Gegenwart vorherrschend ist und sich entsprechend im universitaeren Lehrkanon niederschlaegt. In neueren Philosophiegeschichten istimmer noch  zu lesen: Es gibt eine ‚kontinuierliche Entwicklung‘ von Fragestellungen, Problemen und Begriffen. [3] Diese merkwürdige Überzeugung von einer ‚kontinuierliche Entwicklung‘ scheint tief verwurzelt in den Köpfen und Herzen vieler Philosophen. Wieso eigentlich? Und vor allem: Was kommt dabei heraus? Dieser Frage ist übrigens auch Rorty nachgegangen. 

Hinter Rorty’s Skepsis verbirgt sich seine andere Sicht auf die Funktion der Philosophiegeschichte fuer die Philosophie. Diese hat er bereits in seinem ‚Spiegel der Natur‘ im Zuge seiner erkenntnistheoretischen und damit zusammenhaengenden Untersuchungen ueber das ‚Leib-Geist-Problem‘ ausfuehrlich dargestellt. Er hatte damals geaeuszert – mit Bezug auf sein ‚philosophieren‘ -, dass es ‚therapeutische Auswirkungen‘ hat, wenn man sich mit Philosophiegeschichte rational, historisch rekonstruierend und im geistesgeschichtlichen Rahmen so beschaeftigt, wie er es getan hat. Dies haette bei ihm im Falle der Erkenntnistheorie und des Leib-Geist-Problems dazu gefuehrt, zu unterstellen, dass ‚Geist‘ in der Philosophie deshalb eine ontologische Dimension erhalten habe, weil Philosophen in zeitgemaeszer Weise im Rahmen von Problemloesungen fuer ihre jeweilige Gegenwart darueber gesprochen und geschrieben haetten. Weil dabei bestimmte Woerter in Umlauf kamen, wurde es moeglich philosophischen Texten im Nachhinein eine bestimmte, wenn auch spaetere (Hinein-)Interpretation zuzuordnen.

Vehement wurde diese Einschaetzung mehrheitlich mit dem Etikett ‚Sakrileg‘ beklebt. Man urteilte, Rorty habe das Ende der Philosophie eingelaeutet. Er wuenschte sich fuer die Philosophie aber nur den Verzicht auf Fragen und Antworten, die angeblich Ewigkeitscharakter haben. Dies sollte den Raum oeffnen fuer ein ‚philosophieren‘ zu Problemen der Gegenwart. Ihm schwebte vor, dass an diesem ‚Gespraech‘ sich weltweit alle ‚Denker und Dichter‘ beteiligten. Philosophiegeschichte koenne nicht lehren, worueber in diesem Gespraech gesprochen und wie gesprochen werden soll. Im Gegenteil sie sei sogar hinderlich. Wenn Philosophiegeschichte im eigenen Denken assimiliert wird, wirke sie als ‚Schattengeschichte‘ (Richard Watson). In der Folge halten normale Philosophen die eroerterten Probleme fuer echte philosophische Probleme, die sie von Problemen der Gegenwart abhalten. Die letzteren mit Loesungsvorschlaegen zu versorgen, ist aber fuer Rorty ‚philosophieren‘. Er teilte mit Dewey diese Auffassung.

Die Idee eines ‚menschheitsumfassenden Gespraeches‘ – befreit vom nutzlosen Ballast der Geschichte – verfolgte er mit seiner Art zu ‚philosophieren‘. Seine vielen schriftlichen und muendlichen Gespraeche mit Philosophen der Gegenwart zeichneten sich durch Akzeptanz und Beschreibung von deren Aeuszerungen aus. Es ging Rorty um Gemeinschaft. Die Teilnehmer dieses gemeinsamen ‚philosophieren‘ – von dem niemand wegen mangelhafter philosophiegeschichtlicher Kenntnisse ausgeschlossen ist – stehen stets im Wettkampf um die besten Ideen. Ein Wettkampf, der unentschieden ausgehen duerfte. „… doch solange er weiter ausgetragen wird, werden wir nicht jenes Gemeinschaftsgefuehl verlieren, dessen Moeglichkeit sich allein dem leidenschaftlichen Gespraech verdankt.“ [4] Anstelle von behaupteten ‚kontinuierlichen Entwicklungen‘ soll ‚philosophieren‘ Kontinuität von Gemeinschaft ermöglichen. Sie wäre eine Gemeinschaft, die im ‚Kontakt miteinander‘ (Rolf Reinhold) entsteht, sich verändert und sich stets mit Aktuellem befasst. 

 

[1] Rorty: Die Kontingenz der philosophischen Probleme. In: Ders.: Wahrheit und Fortschritt, 395 – 415. Ffm. 2008, 6. Aufl., 398.
[2]  Zit. ebd. 395.
[3] Vgl. Wolfgang Roed: Der Weg der Philosophie von den Anfaengen bis ins 20. Jahrhundert: Bd I. Muenchen 2000, S. 15-18.
[4] Rorty: Vier Formen des Schreibens von Philosophiegeschichte. 355 – 394. In: a.a.O. S. 394.

Rorty, Kant und ich

Das was ist, hängt ab von dem, was viele glauben, dass es so sei.

Das kulturell wirksame Konzept einer Philosophie, „… das als ‚Gerichtshof einer reinen Vernunft‘ verfasst wurde, … verdanken wir vor allem Kant, …“ der wiederum in der Tradition Cartesianischer und Lockescher Philosophie stand. (Vgl. Richard Rorty: Philosophy and the mirror of nature. Princeton University Press 2009, S.4.)

Als ich dies vor wenigen Jahren zum ersten Mal las, stimmte ich spontan zu. Rorty‘ s Resuemee schien das meine zu treffen, dass sich mir in Jahrzehnten meines philosophischen Selberlernens nahe gelegt hatte. Zum ersten Mal war mir 10 Jahre vor meiner ersten gruendlichen Rorty-Lektuere deutlich ein verwandter Gedanke bei eigenen Transkriptionen von Texten des Augustin von Thagaste gekommen. Ich hatte mich damals gefragt, wieso der Diskurs zwischen Augustin und seinen Zeitgenossen niemals grundlegende Annahmen bzw. Behauptungen – wie z.B. die Dichotomie von Geist-Seele und Koerper – thematisiert hatte. Vermutlich deshalb, so ergab es sich mir spontan, weil alle seine Gespraechspartner davon ausgingen, dass es so ist. Die Rede Rorty’s vom therapeutischen Wert der Beschaeftigung mit der Philosophiegeschichte hatte sich fuer mich so bestaetigt.  Augustin und seine Zeitgenossen teilten die gemeinsame Auffassung, dass der Mensch sowohl aus Koerper als auch aus Geist bestehe. Ohne diese gemeinsame Auffassung waere ein Diskurs in der Art und Weise nicht gelungen, wie sie u.a. der umfangreiche Briefwechsel des Augustin von Thagaste dokumentiert. Damals trauerte ich diesen Zeiten nach, weil ich in meinen Diskursen erlebte, dass es keinen derartigen Konsens mehr gab – ausser ich blieb unter meinesgleichen, was ich aber nicht wollte. Ich hatte in meinem Alltag mit Menschen unterschiedlichster Auffassungen zu tun und hatte den Wunsch zu kapieren, was sie zu ihren jeweils anderen Auffassungen veranlasste.

Grenzen des Selberdenkens bei Kant

Kant galt zur Zeit meines Studiums als Philosoph, der Selberdenken propagierte. Wie ich spaeter nach Jahren meiner autodidaktischen Kantlektuere resuemierte, konnte er Selberdenken nur im Rahmen bestimmter Parameter denken, die mir im Laufe meines alltaeglichen Handelns fragwuerdig geworden waren. Unter Kantianern – Menschen mit grundsaetzlich Kantischen Auffassungen – wurden meine Fragen nach dem, was sie so selbstverstaendlich mit Vernunft, Verstand und Pflicht bezeichneten, abgewehrt. Mir schien, dass sich fuer Rorty aehnliche Fragen gestellt hatten. Ich folgte seinen Anregungen zu denen sich die von Rolf Reinhold gesellten und wurde bei Kant fuendig. In einem Vortrag in einer universitaeren, interdisziplinaeren AG stellte ich mein Resuemee vor: Ich erlaeuterte, dass Kants ‚Apriori‘ ein ‚Erklaerungsmodell‘ sei, das den Nachweis der von Kant behaupteten ‚apriorischen Anschauungen und Begriffe‘ zwar behauptet, aber letztlich verfehlte. Daher taugten letztere aus meiner Sicht nicht als Anleitung eines interdisziplinaeren Diskurses der Gegenwart. Die Teilnehmer waren ueberwiegend Nichtphilosophen, die aber das kantische Konzept der reinen Vernunft enkulturell erworben und fuer unser Thema ‚Neurophilosophie‘ als irgendwie brauchbar betrachteten.

Textstellen aus der Kritik der reinen Vernunft – wie folgende – benutzte ich damals, um meine Schlussfolgerungen kapierbar zu machen: „Ich verstehe unter einer transzendentalen Eroerterung die Erklaerung eines Begriffs, als eines Prinzips, woraus die Moeglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird erfordert, 1) dass wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfliessen, 2) dass diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklaerungsart dieses Begriffs moeglich sind.“ (ebd.§3)

Hier wird m.E. ein spezifisch apriorisches Erklaerungsverhalten deutlich: Eines bedingt das andere und es entsteht ein geschlossener Kreis (homöostatisches Prinzip), der nur schwer zu knacken ist und zusaetzlich durch Wortschatz und verzwickte grammatikalische Konstruktionen unklar wirkt. Zirkelschluesse hatte ich frueher selber vollzogen, ohne sie zu bemerken. Hinweise anderer darauf haben mich immer mal wieder nachdenklich gemacht. Mehr duerfte mir mit meinem Vortrag damals auch nicht gelungen sein. Im Gefolge der These, dass alles, was jemand sagt, Menschen perturbiert mit der moeglichen Folge einer Veraenderung, habe ich die Abwehr meiner Thesen zu Kant als verstaendliche Reaktion akzeptiert. Ich vermute, dass auch Rorty die Kritik an seinen Forschungsergebnissen unter aehnlichen Aspekten betrachtet hat.

Die Physis ist marginal – Vernunft und Verstand sind dominant

Kant, so erlaeuterte ich damals weiter, schien der Auffassung zu sein, dass er mit seiner‘ transzendentalen Aesthetik‘ etwas ‚Objektives‘ aufzuzeigen in der Lage sei, das wissenschaftlichen Aussagen das Praedikat  ‚Gewissheit‘ verleihen koenne. Er begann in §1 seine „Kritik der reinen Vernunft“ mit einer knappen Beschreibung darueber, wie er zur Erkenntnis der ‚reinen sinnlichen Anschauungsform‘ des Raumes komme.

„In der transzendentalen Aesthetik … werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, dass wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung uebrig bleibe.“

Eine derartige Akrobatik konnte m.E. nur auf dem Feld Lockescher Erkenntnistheorie gedeihen. Sie setzte nach meinen eigenen Untersuchungen bei Vertretern der Erkenntnistheorie die dichotomische Auffassung Koerper-Geist voraus und sie ging weiter davon aus, dass dem menschlichen Geist alles moeglich sei umzusetzen, was er sich ausdenkt. Mir kam beim Lesen die Kritik des Lukrez an den Agnostikern in den Sinn, die er als Leute bezeichnet, die versuchten in der ‚eigenen Fussspur gehend gleichzeitig auf dem Kopf zu stehen‘. Mir war es vergleichsweise bisher unmoeglich gewesen, das zu leisten, was Kant hier als Weg zur „Erkenntnis des Apriorischen“ vorgab. Kant selbst schien sich der Problematik dieses Erkennens moeglicherweise bewusst gewesen zu sein, denn er erklaerte gleich auf der ersten Seite seiner „Kritik der reinen Vernunft“,  dass man um das Apriorische ‚absondern‘ zu koennen, ‚lange Uebung‘ brauche.

‚herausfinden‘ statt ‚beweisen‘

Dies kann moeglicherweise genuegen, um zu erlaeutern, wieso die Zustimmung zu Rorty’s Schlussfolgerungen, fuer mich in jüngster Zeit naeher lag, als die Abwehr seiner Ergebnisse. In meinen metaphysischen Zeiten hatte ich es vermieden mich mit Rorty zu beschaeftigen. Ich habe inzwischen herausgefunden, dass ‚philosophieren‘ und ‚handeln‘ besser funktionieren, wenn man Kantische Parameter verlaesst und sich auf ‚hingehen zu den Dingen‘ (Rolf Reinhold) und ‚verzichten‘ auf weitreichende Behauptungen‘ wie „Geist“ (Richard Rorty) einlaesst. Dieses ‚besser funktionieren‘ laesst sich nicht „beweisen“ – eine von zahlreichen Selbstverständlichkeiten unserer Kultur – dies kann jeder nur fuer sich selber herausfinden, wenn er dies moechte.

Es gilt auch: Die bessere Qualitaet von Rorty’s Idee einer ‚edifying philosophy‘ laesst sich genauso wenig „beweisen“, wie es Kant gelungen ist, seine ‚Aprioritaeten“ – eine hegelsche Bezeichnung – zu beweisen. Kant ging ganz menschlich selbstverstaendlich und gewohnheitsmaessig von dem aus, was er selber erlebt, erworben und in diesem Rahmen vorgefunden hatte: Bestimmte kulturelle Denk- und Handlungsgewohnheiten, die ihm wertvoll geworden waren und die er verteidigte, nachdem der Schotte Hume ihn aus seinem ‚dogmatischen Schlummer‘ geweckt hatte. Rorty wertete philosophierend auch vor dem Hintergrund ganz bestimmter kultureller Denk- und Handlungsgewohnheiten seine eigenen Forschungsergebnisse aus. Was Rorty von Kant ganz deutlich unterschied, war seine Entscheidung für eine gemeinschaftsstiftende Pragmatik der Wissenschaften und des Miteinanders  gegen die Gepflogenheit, weitere theoretische Behauptungen über bereits theoretisch Behauptetes zu deren Kriterien zu erheben.

Rorty Metaphilosophie


Die Erforschung der unbemerkten Selbstverstaendlichkeiten

Philosophische Probleme sind Produkte

Die Mehrheit der Philosophen gehe ueblicherweise davon aus, dass es die Philosophie mit Problemen zu tun habe, die sich jedem zeigten, der anfange nachzudenken. (Vgl. Richard Rorty: Philosophy and the mirror of nature. Princeton University Press 2009, S. 3. ) Das, was er bei Rudolph Carnap, Carl Hempel , Charles Hartshorne und Paul Weiss gelernt habe – erlaeuterte Rorty 1979 im Vorwort des „Spiegel der Natur“ – habe ihn dagegen veranlasst, davon auszugehen: Ein ‚philosophisches Problem‘ ist ein Produkt.

Metaphilosophie als Erforschung philosophischer Produkte

„Dieses ergab sich durch unbemerkt uebernommene Behauptungen, die in den Wortschatz Eingang gefunden hatten, mit denen das Problem dargestellt wurde. Bevor ein ‚philosophisches Problem‘ also einer ernsthaften Loesung zugefuehrt werden durfte, mussten diese Behauptungen untersucht werden.“ (Ebd. S. XXXI.)

Wenig spaeter sei er durch Wilfrid Sellars‘ Angriff auf den „Mythos des Gegebenen“ und Willard Quine’s Auseinandersetzung mit dem ‚Verhaeltnis zwischen Sprache und Tatsachen‘ angeregt worden, weiter in der bereits erwaehnten Richtung zu forschen. „Von da an bemuehte ich mich zunehmend die Behauptungen freizulegen, die hinter der Problematik moderner Philosophie steckten.“ (ebd.)

Verzicht auf Behauptungen ueber Wahrheit und Objektivitaet

Dieses umfangreiche Projekt Rorty’s war der Nachfolger eines ersten nicht weniger umfangreichen gewesen, das fuer Rorty’s Philosophieren weitreichende Folgen hatte. Angeregt durch seine metaphysisch orientierten Lehrer in Chicago hatte er sich in diesem ersten Projekt darum bemueht, in der Metaphysik einen voraussetzungslosen Ausgangspunkt fuer sein Philosophieren zu finden. Seine Forschungen hatte er mit dem Resuemee beendet, dass bisher kein Philosoph Platons ’sagenhaften Ort der Wahrheit und Objektivitaet‘ erreicht habe. Philosophen seien deshalb dazu uebergegangen, durch strategisch gekonntes Argumentieren Behauptungen ueber Wahrheit und Objektivitaet zu beweisen. Er entschied, dass es fuer ihn nicht in Frage kaeme, diesen mehrheitlich beschrittenen Weg des Philosophierens zu nehmen.

Die fragwuerdige Selbstverstaendlichkeit des Mentalen

Sein zweites Projektes fuehrte ihn im Wesentlichen zur Selbstverstaendlichkeit des Mentalen in unseren Denkgewohnheiten  Er veroeffentlichte Aussagen dazu u.a. 1967 in der Einleitung seines zu Studienzwecken herausgegebenen Buches „Die linguistische Wende“, 1972 in seinem Aufsatz „World well lost“ und schliesslich umfassend und detailliert 1979 in „Der Spiegel der Natur“. Er stellte sie in den Jahren vor dessen Erscheinen in den studentischen Diskurs und trug sie auf unterschiedlichsten Veranstaltungen im Zusammenhang mit modernen philosophischen Positionen vor. Die Vertreter des amerikanischen Mainstreams der Philosophie – ueberwiegend Analytische Philosophen – ignorierten nicht nur seine vereinzelt veroeffentlichten Ergebnisse, sondern auch den „Spiegel der Natur“. Letzterer wurde von Laien mit grosser Resonanz und Zustimmung gelesen. Rorty’s Wunsch, dass seine Forschungsergebnisse die philosophische Fachwelt zu Untersuchungen ihrer ‚unbemerkt zu eigen gemachten Behauptungen‘ anregen koennte, erfuellte sich bisher nicht.

Viele Philosophen halten nach wie vor unbeirrt an mentalen Irrtümern fest, wenn sie behaupten, “ … dass die Kriterien der Wahrheit … mit Gründen transzendiert werden können.“ Dies wird behauptet, obwohl bereits zugestanden wird, dass es nicht möglich sei, einen neutralen Standpunkt einzunehmen. (vgl.  Udo Tietz: Sprache und Verstehen in analytischer und hermeneutischer Sicht. Berlin (Akademie) 1995, S. 268. ) Auch transzendentalphilosophische Verbalkonstrukte wie Philosophie solle ‚auf der höchsten denkbaren Reflexions- und Allgemeinheitsstufe Aussagen … formulieren, die sagen, wie es sich überhaupt verhält.‘ (Vgl. K.-O. Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998. Rezension) haben aus meiner Sicht nichts Neues gefunden. Sie dienen lediglich dazu an der üblichen „philosophischen Argumentation“ teilzunehmen (Vgl. Apel: Transformation der Philosophie. Bd. 1, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1973, S. 62.), wie sie u.a. im Rahmen der Diskursethik immer noch in althergebrachter Weise geführt wird. Sie können m.E. – wie Rolf Reinhold formulierte – als „Pfeifen im Wald“ angesehen werden, um zu verbergen, dass Mentales im Dunkeln liegt.

Es scheint so, als ob auch für Philosophen die von Hume getroffene Feststellung gilt, dass die Gewohnheit die große Führerin durch unser menschliches Leben sei. Der  seit Jahrhunderten ausgebliebene philosophische Diskurs über Humesche Ansätze könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass philosophierende Menschen all zu Selbstverständliches – die  ‚unbemerkt übernommenen Behauptungen‘ – für bare Münze nehmen und so auch gegen kapierbare  Einwände unbeirrt daran festzuhalten.

Der Fall Richard Rorty


Behauptungen ueber Wirkungen von Etikettierungen und Schweigen.

Der Mensch hinter einer bestimmten Philosophie hat mich zeitlebens zumindest genauso, vielleicht sogar mehr interessiert als die jeweilige Philosophie. Inzwischen stelle ich fest, dass ich bestimmte philosophische Theorien erst dann nachvollziehen kann, wenn sich fuer mich eine Verbindung zwischen philosophischen Ideen und dem Leben des betreffenden Philosophen ergeben hat. Meine Neigung, beides zusammen zu sehen, entspricht nicht der Praxis innerhalb der professionellen Philosophie. Die Geschichte der Philosophie und aller Wissenschaften zumindest seit Beginn der Neuzeit ist ein gnadenloser Streit um Theorien. Dahinter verschwinden die Philosophen und sie mussten und muessen es sich im Diskurs gefallen lassen, mit den positiven oder negativen Urteilen ihrer Kollegen und der medialen Oeffentlichkeit ueber ihre Theorien persoenlich behaengt zu werden.

Dies war auch im Falle Richard Rortys so. Seine persoenliche Betroffenheit ueber diese Praxis hat ihn veranlasst, in dem Aufsatz  „Trotzki und die wilden Orchideen“ seinen persoenlichen Bezug zu seiner Philosophie zu skizzieren. Ich habe mich dadurch an vieles erinnert gefuehlt, das auch an meinem lebenslangen Beduerfnis fuers Philosophieren haengt.

Meine Behauptung ist, dass die sich in einem Leben ergebenden existentiellen Konstellationen darueber entscheiden, welchen Theorien man den Vorzug vor anderen gibt. Diese Behauptung muesste – um wissenschaftlich bestehen zu koennen – durch umfangreiche Forschungen belegt werden. Im Moment muss ich mich, wenn ich etwas sagen moechte, darauf beschraenken, von wenigen Ausgrabungsstätten auszugehen.

Als ich Rortys Ansichten zum ersten Mal hoerte, war ich noch fest ueberzeugt davon, dass es mir moeglich sein koennte, eine Theorie der Welt – aehnlich der wie Platon und Augustin Thagaste sie entworfen hatten – erfinden zu koennen. So verwarf ich Rortys Ansichten, klebte ihnen das Etikett „Skeptizismus, der zur Verzweiflung fuehrt“ auf und wendete mich wieder metaphysischen Ideen zu. Erst Jahre spaeter, weil sich existentielle Konstellationen geaendert hatten und nichtmetaphysische Theorien neue Handlungsmoeglichkeiten zu eroeffnen schienen, entdeckte ich auch fuer mich Zutreffendes in seinen philosophiegeschichtlichen Sichtweisen und seiner ‚edifying philosophy‘.

2008 erschien in Chicago ueber Richard Rorty: The Making of an American Philosopher. Autor ist der Soziologe Neil Gross, fuer den Richard Rortys wissenschaftliche Entwicklung ein „Fall“ ist, um neuartige soziologische Ideen zu diskutieren und so ins Gespraech zu bringen. Der Kern dieser Ideen ist seine Behauptung, dass die Etiketten die Ideen in einer Gesellschaft angehaengt werden, individuelle Entwicklungen der jeweiligen Ideengeber beeinflussen.

Aus meiner prosaischen Sicht scheint mir dieser Kontext ‚offensichtbar‘ (Rolf Reinholds Kreation) und ich wunderte mich ueber den Neuigkeitswert, den Gross seiner Idee zumass. Dieses Wundern versiegte, als ich las, dass die Soziologie in den Staaten erst anfaengt sich von ihren alten Rollentheorien zu verabschieden. Ich habe keine Ahnung, wie es damit in der deutschsprachigen Soziologie bestellt ist. Ich wuensche ihr aehnliches, denn ihre plakativen Rollentheorien haben mein Interesse an soziologischen Sichtweisen schon früh zum Erloeschen gebracht.

Im Falle Rortys meint Gross, sei es das Etikett „extrem linker Patriot Amerikas“ gewesen, das fuer dessen Eigenkonzept „auf extreme Weise“ wichtig geworden sei.  Derartige Zuschreibungen wirkten sich sowohl auf die konkrete berufliche Orientierung als auch auf die intellektuellen Aktivitaeten aus. Gross aeusserte im Mai 2008 in einem EmailDiskurs mit Scott McLemee die Behauptung, dass die Ende der siebziger Jahre zunehmende Fokussierung der Oeffentlichkeit auf dieses Etikett Rortys Rueckkehr zum amerikanischen Pragmatismus mit beeinflusst habe. Eine weitere Rolle duerfte dabei auch der Tod der pragmatistisch orientierten Eltern gespielt haben.  „Ich erfinde in diesem Buch einen Bericht, wie im Laufe ihres Lebens sich Eigenkonzepte von Denkern bilden und aendern.“ (Gross im Mail-Diskurs mit Scott McLemee )

Im Zusammenhang mit der schweigenden Reaktion auf Richard Rortys philosophiegeschichtliche Forschungsergebnisse im deutschsprachigen Raum und meiner augenblicklich existentiellen Konstellation ergab sich meine folgende Behauptung: Nicht nur durch Etikettierung, sondern auch durch Schweigen zu dem, was selber denkende Menschen – nicht nur Philosophen und andere Wissenschaftler – zu sagen haben, duerften berufliche Karrieren und individuelle Lebenskonzepte auf ‚extreme Weise‘ beeinflusst werden koennen.

Anregend zum Weiterdenken könnte sein:

Neil Gross
Richard Rorty
The Making of an American Philosopher
390 pages, © 2008 University Chicago Press