Wespennester voller Missverstaendnisse …

… oeffneten sich vor der Idee Rortys, Philosophen sollten sich der ‚heilenden Wirkung philosophiegeschichtlicher Zusammenhaenge‘ aussetzen. Rortys Ergebnis wirkte verstoerend bis erschreckend: Geist sei moeglicherweise nichts anderes – so gab Rorty zu bedenken -, als irrtuemlich interpretierende Ueberlegungen, die sich an Texten verstorbener Philosophen ergeben hatten.

Keine Wissenschaft – auszer der Theologie – ist derart mit der eigenen Geschichte beschaeftigt, wie die Philosophie. Vergleichbar der Theologie ist sie kontinuierlich dabei ihre Gegenstaende mit historischen Problemen zu fuellen, zu deren Klaerung, die Gegenwart beizutragen habe. Wie aber sollen Probleme der Vergangenheit mit Mitteln der Gegenwart geloest werden koennen? Und wie kann angesichts dieses merkwuerdigen Forschungsansatzes ‚philosophieren‘ fuer die Gegenwart produktiv werden?

Wer von universitaer-philosophischer Verbildung frei ist, wird merken, dass hier ziemlich schraeg interpretiert wird. Rorty hat dieses schraege Daherkommen selten klar benannt. Gegenueber seinem Freund Habermas aber war er da wenig zimperlich und nannte ihn einen „Sklaven“ traditioneller Vorstellungen. Dessen rationalistische Handlungstheorie charakterisierte er als ein veraltetes Konzept der metaphysischen Philosophie. Der Freundschaft zwischen den beiden Maennern haben diese klaren Worte keinen Abbruch getan, aber der Schrecken vor dem, was einem passieren konnte, wenn man Rorty’s Vorschlag folgte, vergroeszerte sich damit nicht nur fuer deutsche Philosophen.

Traditionsgepraegte Philosophen, die sich als ‚richtige‘ Philosophen verstehen, bestreiten, Metaphysik zu betreiben. Das liegt vor allem daran, dass sie zwar ihre Nomenklatura veraendert haben, nicht aber die Sache und auch nicht ihre Methode. Noch immer sind sie – meist mit Kant im Ruecken – einer irgendwie gearteten Objektivitaet auf der Spur und noch immer rechtfertigen sie ihre Ueberzeugungen mit Ursachen, die hinreichende bzw. zureichende Gruende liefern. Rorty beteiligte sich an diesen Diskursen, indem er Argumenationsketten seiner Kollegen beschrieb, darin herumstocherte und auf Aspekte hinwies, die unbeachtet liegen geblieben waren. Als Skeptiker liesz er sich nicht vom Vordergruendigen taeuschen, sondern benannte das, was er las, hoerte, sah, dachte und empfand. [1]

Eine derartige skeptische Klarsichtigkeit ist unter den traditionsgepraegten Philosophen weder sehr verbreitet noch wird sie geschaetzt. Rorty war u. a. aufgefallen, dass kleine Woertchen wie ‚wahr‘ bzw. ‚real‘ als Wahrheitskriterium herkoemmlicher Art benutzt wurden. Die schaedliche Wirkung von Ueberzeugungen, die auf diese Weise unmerklich ‚Wahrheit‘ beanspruchen, wurde und wird nicht bemerkt. Entsprechende Aeuszerungen von Rorty wurden uebersehen bzw. sind die ‚blinden Flecken‘ vieler Philosophen: „Sobald wir aufhoeren, wahre Ueberzeugungen als Repraesentationen der Realitaet aufzufassen und sie statt dessen … als Handlungsgewohnheiten begreifen, dann … koennen wir mit dem Wort ‚real‘ nichts mehr anfangen, es sei denn, wir verwenden es als einen uniformativen, nichts erklaerenden Ehrentitel, als einen Klaps auf die Schulter derjenigen Muster, auf die wir uns nunmehr verlassen.“ [2]

Es ist nachvollziehbar, dass traditionsgepraegte Philosophen nicht ins Leere laufen moechten, deshalb bestaetigen sie sich gegenseitig sowohl ihre Metaphysikfreiheit, wie auch die Gewichtigkeit ihrer philosophischen Ueberlegungen. Rorty nannte sie u. a. „Raetselfreunde“, weil sie das „Unsagbare lieben“ und Metaphern fuer „Werkzeuge des Denkens“ halten. Dabei braucht die Philosophie aber ’neue Anschauungen‘ ohne transzendente Sackgassen der Metaphysik, weil die alten nicht weiterfuehren. Dabei wird der Schrecken ohne einen archimedischen Angelpunkt auskommen zu muessen, letztlich marginal bleiben, weil er den Anfang fuer neue Moeglichkeiten des ‚philosophieren‘ markiert. „Wir Holisten behaupten, dass weder Intuition noch ambitioniertes Streben einen archimedischen Punkt gewaehrleisten.“ [3]

 

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[1] Vgl. dazu z. B. seine Einleitung zu Richard Rorty und Joachim Schulte: Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt/M. 2008, 6. Auflage, S. 7-24.

[2] Ebd. S. 171.

[3] Ebd. S. 176-178.

Der Fall Richard Rorty


Behauptungen ueber Wirkungen von Etikettierungen und Schweigen.

Der Mensch hinter einer bestimmten Philosophie hat mich zeitlebens zumindest genauso, vielleicht sogar mehr interessiert als die jeweilige Philosophie. Inzwischen stelle ich fest, dass ich bestimmte philosophische Theorien erst dann nachvollziehen kann, wenn sich fuer mich eine Verbindung zwischen philosophischen Ideen und dem Leben des betreffenden Philosophen ergeben hat. Meine Neigung, beides zusammen zu sehen, entspricht nicht der Praxis innerhalb der professionellen Philosophie. Die Geschichte der Philosophie und aller Wissenschaften zumindest seit Beginn der Neuzeit ist ein gnadenloser Streit um Theorien. Dahinter verschwinden die Philosophen und sie mussten und muessen es sich im Diskurs gefallen lassen, mit den positiven oder negativen Urteilen ihrer Kollegen und der medialen Oeffentlichkeit ueber ihre Theorien persoenlich behaengt zu werden.

Dies war auch im Falle Richard Rortys so. Seine persoenliche Betroffenheit ueber diese Praxis hat ihn veranlasst, in dem Aufsatz  „Trotzki und die wilden Orchideen“ seinen persoenlichen Bezug zu seiner Philosophie zu skizzieren. Ich habe mich dadurch an vieles erinnert gefuehlt, das auch an meinem lebenslangen Beduerfnis fuers Philosophieren haengt.

Meine Behauptung ist, dass die sich in einem Leben ergebenden existentiellen Konstellationen darueber entscheiden, welchen Theorien man den Vorzug vor anderen gibt. Diese Behauptung muesste – um wissenschaftlich bestehen zu koennen – durch umfangreiche Forschungen belegt werden. Im Moment muss ich mich, wenn ich etwas sagen moechte, darauf beschraenken, von wenigen Ausgrabungsstätten auszugehen.

Als ich Rortys Ansichten zum ersten Mal hoerte, war ich noch fest ueberzeugt davon, dass es mir moeglich sein koennte, eine Theorie der Welt – aehnlich der wie Platon und Augustin Thagaste sie entworfen hatten – erfinden zu koennen. So verwarf ich Rortys Ansichten, klebte ihnen das Etikett „Skeptizismus, der zur Verzweiflung fuehrt“ auf und wendete mich wieder metaphysischen Ideen zu. Erst Jahre spaeter, weil sich existentielle Konstellationen geaendert hatten und nichtmetaphysische Theorien neue Handlungsmoeglichkeiten zu eroeffnen schienen, entdeckte ich auch fuer mich Zutreffendes in seinen philosophiegeschichtlichen Sichtweisen und seiner ‚edifying philosophy‘.

2008 erschien in Chicago ueber Richard Rorty: The Making of an American Philosopher. Autor ist der Soziologe Neil Gross, fuer den Richard Rortys wissenschaftliche Entwicklung ein „Fall“ ist, um neuartige soziologische Ideen zu diskutieren und so ins Gespraech zu bringen. Der Kern dieser Ideen ist seine Behauptung, dass die Etiketten die Ideen in einer Gesellschaft angehaengt werden, individuelle Entwicklungen der jeweiligen Ideengeber beeinflussen.

Aus meiner prosaischen Sicht scheint mir dieser Kontext ‚offensichtbar‘ (Rolf Reinholds Kreation) und ich wunderte mich ueber den Neuigkeitswert, den Gross seiner Idee zumass. Dieses Wundern versiegte, als ich las, dass die Soziologie in den Staaten erst anfaengt sich von ihren alten Rollentheorien zu verabschieden. Ich habe keine Ahnung, wie es damit in der deutschsprachigen Soziologie bestellt ist. Ich wuensche ihr aehnliches, denn ihre plakativen Rollentheorien haben mein Interesse an soziologischen Sichtweisen schon früh zum Erloeschen gebracht.

Im Falle Rortys meint Gross, sei es das Etikett „extrem linker Patriot Amerikas“ gewesen, das fuer dessen Eigenkonzept „auf extreme Weise“ wichtig geworden sei.  Derartige Zuschreibungen wirkten sich sowohl auf die konkrete berufliche Orientierung als auch auf die intellektuellen Aktivitaeten aus. Gross aeusserte im Mai 2008 in einem EmailDiskurs mit Scott McLemee die Behauptung, dass die Ende der siebziger Jahre zunehmende Fokussierung der Oeffentlichkeit auf dieses Etikett Rortys Rueckkehr zum amerikanischen Pragmatismus mit beeinflusst habe. Eine weitere Rolle duerfte dabei auch der Tod der pragmatistisch orientierten Eltern gespielt haben.  „Ich erfinde in diesem Buch einen Bericht, wie im Laufe ihres Lebens sich Eigenkonzepte von Denkern bilden und aendern.“ (Gross im Mail-Diskurs mit Scott McLemee )

Im Zusammenhang mit der schweigenden Reaktion auf Richard Rortys philosophiegeschichtliche Forschungsergebnisse im deutschsprachigen Raum und meiner augenblicklich existentiellen Konstellation ergab sich meine folgende Behauptung: Nicht nur durch Etikettierung, sondern auch durch Schweigen zu dem, was selber denkende Menschen – nicht nur Philosophen und andere Wissenschaftler – zu sagen haben, duerften berufliche Karrieren und individuelle Lebenskonzepte auf ‚extreme Weise‘ beeinflusst werden koennen.

Anregend zum Weiterdenken könnte sein:

Neil Gross
Richard Rorty
The Making of an American Philosopher
390 pages, © 2008 University Chicago Press